db stephan roissDeutscher Buchpreis 2020, Zwanzigerliste, Teil 10

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Was bedeutet es, schon als Kind, wo man von Vater und Mutter Schutz vor der Welt erwartet, schon zum fürsorglichen Ritter der Mutter heranzuwachsen, denn die Mutter ist krank, schlimmer: psychiatrisch krank. Was Instabilität der Eltern für ein Kind bedeuten, heißt, mit ständigen Unsicherheiten aufzuwachsen, wechselnd mit den stabilen Phasen der Mutter, in denen dem Kind und auch uns die Mutter ob ihrer Unkonventionalität gefällt; hat sie jedoch einen neuen Schub muß sie in eine geschlossene Anstalt, damit sie nicht ihr Kind, ihre Mitmenschen und sich selbst gefährdet.

Dieses Buch von 198 Seiten hat mich unmittelbar und über lange Zeit tief bewegt. Stephan Roiss gelingt es, die äußere und die innere Welt des Jungen durch ungewöhnliche Mittel herzustellen. Geradezu prophetisch das ‚Wir,‘ in dem der Junge von sich selber spricht. „Die Tür unseres Kinderzimmers stand weit offen.“, beginnt das Buch, das als Roman zu bezeichnen uns schwer fällt. Natürlich denkt man bei „unser Kinderzimmer“ an weitere Geschwister. Das ist auch nicht falsch, es gibt die ältere Schwester, doch die hat ihr eigenes Zimmer. Der Junge spricht konsequent das ganze Buch hindurch von „wir“, was wir als Pluralis Majestatis kennen, mit dem sich Herrscher als Mittelpunkt der Welt kennzeichnen. Doch das trifft es hier nicht. Wir kennen es auch als Sitte von Journalisten, mit einer ‚wir‘-Aussagen zu generalisieren, wie soeben mit dem „Wir kennen“ gerade geschehen. Eine Kollegin aus Berlin behauptet sogar, dieses journalistische ‚Wir‘ beschränke sich auf den Frankfurter Raum, sei nur dort üblich, was nicht stimmt. Dieses ‚Wir‘ gehörte früher zur Journalistenausbildung und ich selbst, die es gewohnt bin, so zu schreiben, lege es immer mehr ab, schreibe jetzt öfter von ‚ich‘.

Aber ein Kind? Macht der Knabe sich stärker als er ist oder spricht die Fürsorge für die Mutter, die Verantwortung, die das Kind trägt, in diesem ‚Wir‘ mit. Wie auch immer, es ist ein starkes Element in einem Buch, in dem der auktoriale Erzähler  in zwei Teilen, erst die Kindheit, dann die Jugend auf 193 Seiten schildert, woran sich ein dritter Teil von einer guten Seite anschließt, wo nun ein namenloser Erzähler vom Besuch des Jungen in der Psychiatrischen Klinik spricht, in der inzwischen nicht nur die Mutter eingewiesen ist, sondern auch die Schwester, die zu ihrem Freund gezogen war, ein Kind zur Welt brachte, das sie später tötete und nun in der selben geschlossenen Anstalt wie ihre Mutter lebt.

Warum mir die Bezeichnung ‚Roman‘ schwer fällt, hat mit der für mich eindrücklichen Art der Erzählung zu tun, die  - wie einzelne Szenenbilder -  immer eine zusammenhängende, aber auch abgeschlossene kleine Geschichte auf einer oder zwei, auch mehreren Seiten mitteilt, die erst wie im Fingerkino, wenn man die Einzelteile ganz schnell hintereinander aufschlägt, zu einem Ganzen, zu einer stringenten Geschichte werden. Der namenlose Junge reagiert nicht nur mit seinem ‚Wir‘ auf seine Situation. Er neigt zudem zur Selbstbeschädigung, er kratzt sich blutig, sucht sich zum Stärkerwerden ein Urzeit Nashorn zum Freund, besagten Dinosaurier namens Triceratops, einen Grünfesser, also Vegetarier, der inzwischen ausgestorben, damals gut zurecht kam. Wir lesen von der Überlebensstrategie des Jungen, der zu Zwangshandlungen neigt und der seinen Vater, der ständig in der Bibel liest und diese zitiert als lieben, aber schwachen, der Situation Ausgelieferten beschreibt. Seine Schwester, die ständig beteuert: „Alles ist gut“, wo doch das Gegenteil der Fall ist, konnte ihm nicht helfen, allein die Großmutter in Aschbach, die Mutter seines Vaters, zu der er häufig vom Vater abgeschoben wird, wenn die Mutter wieder einmal ausfällt oder sich Schübe andeuten, allein diese Großmutter vermittelt eine gewisse Stabilität. Allerdings ist sie eigensinnig, mit einer Deutungshoheit über die Geschichte der Familie versehen, die sie dem Jungen vermittelt. Der Großvater, ihr Mann, ist plötzlich gestorben, nachdem er schon vorher plemplem wurde. Das ist aber nichts im Vergleich zum Vater der Mutter, der sich umbrachte...

So viel Trostlosigkeit als Kind auszuhalten, ist schon eine Leistung, für die jedes Mittel recht ist, sei es die Wir-Form, das Phantasieren, selbst dieser Triceratops zu sein, weshalb dem Jungen ein Panzer wächst, eine unzerstörbare Haut, die er genauso braucht wie die Hörner, um in dieser, seiner Welt zu überleben.
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Ein anrührendes Buch, das einen lange beschäftigt. Ungewöhnlich und eindringlich. Traurig und schön, mit welchen Mitteln kleine Menschen sich in der Welt behaupten., wobei mir der erste Teil, die Kindheit am meisten unter die Haut ging.

P.S. Schon wieder vergaßen wir, mehr über den Autor, den wir nicht weiter kannten, zu berichten. Da ist wieder hilfreich, die LESEPROBEN vom Deutschen Börsenverein, das kleine graue Büchlein, in dem auf den Seiten 74 vom 18

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Cover

Info:
Stephan Roiss, Triceratops, Verlag Kremayr & Scheriau 2020
ISBN 978-3-218-01229-4