db20 wenzelDeutscher Buchpreis 2020, Zwanzigerliste, Teil 12

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ist das unfair, an Jackie Thomaes BRÜDER, Hanser Berlin anzuknüpfen, ein starker Roman, der von zwei Brüdern handelt, die denselben schwarzen Vater haben, der nach dem Liebesverhältnis mit einer Frau aus der DDR, wo Afrikaner Stipendien und Studienplätze erhielten, auch in Westdeutschland ein Kind zeugt. Eine im großen Stil erzählte Geschichte, die sicher den Deutschen Buchpreis bekommen hätte, hätte nicht Saša Stanišić mit HERKUNFT bei Luchterhand das Buch seines Lebens geschrieben.

Nein, es wäre nicht unfair, mit Olivia Wenzels 1000 SERPENTINEN ANGST an BRÜDER anzuknüpfen, es wäre aber verfehlt, geradezu grundfalsch und ein Zeichen dafür, daß man dazu neigt, die eine schwarze Deutsche, die schreibt, automatisch mit der nächsten zu vergleichen, obgleich beide Romane trotz einer Geschwisterthematik nichts weiter miteinander zu tun haben, dieses automatische Vergleichen, auch das wäre heute ein Zeichen für Rassismus. Und mit Rassismus, gefühltem, gewollten, absichtsvollen, versehentlichen...hat die Icherzählerin in Olivia Wenzels Roman genug zu tun. Sie ist der überlebende Teil eines Zwillingspaares, der Vater längst wieder in Angola, mit einer neuen Familie und zunehmend reich geworden. Die Mutter war ein Punk in der DDR, was sie erst in der Beziehung mit dem schwarzen Studenten ablegte, weshalb deren Mutter, eine linientreue DDR-Bürgerin, den Schwiegersohn immer gerne hatte. Doch angepaßt wird die Mutter der Icherzählerin nie sein, schwierig, sehr schwierig immer.

In diesem Roman passiert so viel, das man das nicht nacherzählen will. Vor allem hat sich bei mir der Eindruck festgesetzt, daß Olivia Wenzel, 1985 in Weimar geboren, die sich als Stückeschreiberin und Dramaturgin schon einen Namen gemacht hat, hier eine versteckte Biographie vorlegt. Die von Rassismus handelt und zwar durchgängig, weil die junge Frau, heute in Berlin lebend, erzählt, sich erinnert, reflektiert, anklagt, in der Welt herumreist, mit übergeordneten wechselnden Instanzen ein Frage-Antwortspiel austrägt, das auch optisch den Roman gliedert, denn die Fragen sind in Großbuchstaben gesetzt und erinnern am Anfang, wo sie gerade in New York angekommen ist, an die harschen, verdächtigenden Fragen der dortigen Einreisebehörden. Das wird sich im Laufe des Romans ändern, aber wer die Fragen stellt, kann der Leser eigentlich nur als Selbstgespräch, als Über-Ich, auf jeden Fall intrensisch interpretieren.

Ein junger Mensch, der nichts selbstverständlich macht, sondern bei jeglichem Handeln seine Motiven, die vorgeschobenen, die eigentlichen, die versteckten hinterfragt. Ein junger Mensch, dem klar ist, daß er sein Problem von Rassismus auf einem sehr hohen ökonomischen Level austrägt, denn Geld ist immer vorhanden, der jungen Frau fehlt es an nichts, sie kann tun und lassen, was sie will und in der Welt herumreisen; diese Privilegien sind ihr auch bewußt. Und auch, daß es andere gibt, die am Hungertuch nagen.

Der ganze Roman ist eigentlich eine zeitgemäße  L'Education sentimentale, diesmal um eine junge Frau, die im Verlauf der Geschichte sich zunehmend von ihren Dämonen, ihren Gespenstern befreit und deshalb nach und nach ohne Angst ihre Schwangerschaft bejahen kann, angesichts dessen, daß sie nicht weiß, ob der Erzeuger auch ein Vater werden will und ob sie, die bisher lesbisch lebte, überhaupt eine konventionelle Familie will.

Auch diesmal kommen wir mit dem Deutschen Buchpreis herum in der Welt. Nach dem Beginn in New York, sind wir immer wieder auf Bahnsteigen in Thüringen, wobei die Erzählerin mit den dort stehenden Süßigkeitsautomaten u.a. eine rare Partnerschaft eingeht, die sie auf Berlin und sonstwo ausdehnt. Marokko ist im ersten Teil wichtig, Vietnam im zweiten, die Heimat ihrer Freundin und Liebhaberin, die sich gerade dort aufhält. In Vietnam bündeln sich ihre Probleme, aber auch deren Lösungen.

Doch etwas kann nie wieder gut werden. Ihr Zwillingsbruder hat sich mit 19 Jahren vor ihren Augen vor den Zug geworfen. Tot. Das ist der Grundton des Romans, der mir viel substantieller schien als alle Rassismusvorwürfen. Immer ist der Tod von Kindern für die Eltern anachronistisch, weil erst die Eltern zu sterben haben, dann die Kinder. Aber für einen Zwilling, so sagte deren Forschung, ist der Verlust des anderen Zwillings noch viel fundamentaler als der Tod von Geschwistern immer ist. Der tote Bruder, der Vater abwesend, die Mutter eher feindlich eingestellt, das ist schon harte Kost für einen jungen Menschen.

Mich selbst hat zunehmend die Antwort auf die Frage interessiert, die die Icherzählerin auf Seite 82 stellt: „Was soll mir meine weiße Großmutter antworten auf die Frage, ob sie eine Ahnung hat, was es bedeutet, keinen Ort zu kennen, an dem man selbst die Norm ist“, weshalb die Erzählerin sich unter vielen Schwarzen in den USA kurzfristig zu Hause fühlt. Wenn es um Hautfarbe geht, kann die Großmutter sicherlich keine Ahnung haben. Und ich auch nicht. Aber „die Norm“ gibt es in anderen Zusammenhängen auch und die Grundsatzfrage für jeden von uns lautet eben, ob man seinen eigenen Weg geht oder sich an Mehrheiten anpaßt, denn die Norm wird von Mehrheiten ‚normiert‘. Und bei den Auswirkungen als Minderheit können viele von uns mitreden. Allerdings sind diese selbstgewählt und nicht äußerlich angeboren.

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Info:
Olivia Wenzel, 1000 Serpentinen Angst, S. Fischer 2020
ISBN 978-3-10-397406-5