Bildschirmfoto 2020 09 18 um 23.08.49Deutscher Buchpreis 2020, Zwanzigerliste, Teil 13 und 13. Schweizer Buchpreis: Fünf Nominierte, Teil 2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Auf die kurze Liste zum Deutschen Buchpreis hat es der Sebi nicht geschafft, aber dafür  ist DER HALBBART einer der fünf Nominierten für den Schweizer Buchpreis und wer den Sebi und den Halbbart hat kennenlernen dürfen, der ist froh drum und wünscht ihm das Beste.

Man weiß gar nicht, wo man bei diesem 677 Seiten starken Buch anfangen soll: Ja, Sie brauchen Zeit, aber diese Zeit nimmt man sich gerne und zunehmend noch lieber, wenn man zusammen mit dem Sebi, seinen Brüdern, dem klugen, inzwischen einbeinigen Geni und dem Möchtegern Poldi, sowie dem lebenserfahrenen Halbbart mit seiner Durchsicht und Humanität, dem unmöglichen Onkel Alisi, der aber trotz des tödlichen Überfalls auf den Klosterabt und den Raub der Klosterschätze, immer noch die Kurve kratzt, Sebis Vorbild, der Teufels-Anneli, in der er seine Lehrmeisterin (550) findet, denn die kann vom Erzählen sogar leben, der frischen Kätterli, deren Wandlung von einem jungen lebensfrohen Ding zu einer verbitterten Klostergängerin wir mitbekommen, ja, ein Mönch hat ihr Leid angetan, vielleicht hatte sich auch ihr Vergewaltiger als Mönch verkleidet, wenn man mit all diesen Personen sich im 14. Jahrhundert einlebt, genau 1313 in einem kleinen Dorf in der Talschaft Schwyz, nahe dem bedeutendsten Wallfahrtsort der Schweiz, der Benediktinerabteil Einsiedeln. Die wird eine große Rolle spielen, weil nicht nur die Mönche ihr Fett wegbekommen, sondern die politische Ausgangslage der Zeit in all den Geschichten, die Sebi wißbegierig aufnimmt und weitererzählt, durchschimmert. Der Abscheu, ja der Haß der Bevölkerung auf die Herrschaft der Habsburger spielt eine große Rolle und wirklich wird in den 83 Kapiteln, den 83 Geschichten die Geschichte gespiegelt: im sogenannten Marchenstreit hatten Schwyzer Bauern 1314 Kloster Einsiedeln geplündert, woraufhin dessen Schirmvogt, Leopold I., Herzog von Österreich, die Innerschweizer angriff, ihnen aber 1315 in der Schlacht am Morgarten unterlag.

Das darf man gleich wieder vergessen, es soll aber ein Hinweise sein, daß, was so plaudernd daherkommt, einen wahren historischen Kern besitzt. Das fängt schon mit dem Icherzähler, dem Kind, dem Knaben, dem Jungen, dem jungen Mann Eusebius, genannt Sebi, an. Denn in dieser Gegend von Bauern wird man Bauer. Gut, einer geht auch mal ins Kloster, wird ein Kirchenmann, ein anderer zu den Soldaten, aber das Herkömmliche ist die Landwirtschaft. Und was beschließt der kleine Sebi, der sich Muskeln hart erarbeiten muß: er wird Geschichtenerzähler. Und wir, die ihm die 83 Geschichten durch mit Vergnügen gefolgt sind, müssen davon ausgehen, daß er ein rechter Tausendundeinserzähler geworden ist, denn mit HALBBART hat er schon ein Meisterstück vorgelegt, was ja gleichzeitig sein Gesellenstück war, obwohl er seine Lehrjahre noch vor sich hatte.

Doch, doch, den Halbbart sind wir noch schuldig. Denn jeder Leser wird sich erst einmal fragen, warum denn der auktoriale Erzähler, die wirkliche Hauptperson, nicht im Titel auftaucht, sondern dieser Halbbart, der zwar immer wieder eine Rolle spielt, aber eben nicht der ist, dessen Aufwachsen und Entwicklung wir in einem echte Bildungsroman – neudeutsch Coming of Age - verfolgen. Zum Titel wurde Charles Lewinsky sogar in einem Interview befragt. Seine Antwort ist interessant, denn er weist daraufhin, daß für ihn Halbbart diejenige Figur ist, die quer zu den Lebenserfahrungen der Dörfler liegt, für Sebi wird er vor allem derjenige, der ihn ahnen läßt, daß hinter dem Jetzt noch eine andere Welt herrscht, der ihm durch sein menschliches Verhalten und auch sein unmenschliches Schicksal – nicht umsonst heißt er Halbbart, er hat nur noch einen halben Bart, ein halbes Gesicht, weil ihm üble Menschen seine andere Hälfte verbrannt hatten – eine neue Welt eröffnet, die er mit seinen Erzählungen nun bereichern will. Wie Lewinsky seinen Sebi sprachmächtig werden läßt, dieser mündliche Erzählduktus, der verschriftlicht den Leser in einen Sog reißt: toll gemacht.

Ein Buch, das rührt und eine Welt wiedererstehen läßt, die für uns weit weg scheint, aber eigentlich von jedem Kind von Neuem erlebt wird, wenn es sich mit Vorgefundenem auseinandersetzen muß. Der Sebi allerdings konnte das noch in seinem kleinen Dorf mit echten Menschen, Schweinen, Pferden etc. erleben, nicht nur am Handy, dem Rechner oder dem Fernseher.

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Info:
Charles Lewinsky, Der Halbbart, Diogenes Verlag 2020
ISBN 978 3 257 07138 8