Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) - Morduntersuchungskommission. Der Fall Melchior Nikoleit von Max Annas (im August auf Platz 6) hat den Spitzenplatz erobert. Mit Recht. Denn es ist ein spannender Roman, der gleichzeitig (endlich) auch DDR-Wirklichkeit widerspiegelt. Worüber viel zu wenig geschrieben wird, während es über das Aufwachsen, das Leben von Menschen in der frühen Bundesrepublik ständig Neuerscheinungen gibt.
Tobias Gohlis, als Sprecher der Jury in Personalunion Vater, Mutter und guter Geist der monatlichen Krimibestenliste zeigte sich über Max Annas Beschäftigung mit der Polizeiarbeit in der DDR begeistert: "Nach dem bravourösen Aufschlag mit Morduntersuchungskomission – ein mosambikanischer Vertragsarbeiter wird von Nazis erschlagen, deren Vorhandensein in der DDR 1983 nicht denkbar ist, Oberleutnant Otto Castorp tötet den Mörder in Selbstjustiz – konnte man sich schon fragen, ob Max Annas der miefigen DDR in ihrem letzten Jahrzehnt noch weiter literarische Funken entlocken könnte. Mit dem Fall Melchior Nikoleit scheint mir diese Frage beantwortet. Annas nimmt seinen Protagonisten Otto Castorp aus der drohenden Pole Position des einsam widerständigen Cops zurück in den Routinealltag der Ermittlungsarbeit und macht ihn damit nur noch stärker zum Seismographen der einen Hälfte der Welt, die erzählt wird: der des failed state DDR. Dieser Welt steht die des aufkeimenden Jugendprotests gegenüber, aber durchaus nicht in heroischer Gestalt. Es sind vier „Punker“, die, schon bevor einer von ihnen, der Bassist Melchior Nikoleit, erschlagen im Schuppen seines Vaters liegt, den „Organen“ ein Dorn im Auge waren. Es ist die Außenseiterin unter den Außenseitern, zudem das einzige Mädchen, die Pfarrerstochter Julia Frühauf (!), die ihren naiven Sehnsüchten ihre Stimme leiht.
Woran ist die DDR zugrunde gegangen? Die Versprechen des Anfangs waren von Beginn an zu groß und zu großartig, kollidierten immer stärker mit den ökonomischen, sozialen und menschlichen Gegebenheiten. Das Ergebnis war ein Staat, der seine Officials wie seine Bürger in die immer engeren Schraubzwingen eines komplexen Systems von Lügen quetschte, bis das nicht mehr auszuhalten war.
1985 – Gorbatschow ist frisch an der Macht – ist ein Jahr, in dem diffuse Erneuerungshoffnungen noch keimen können, aber der Staats-Gärtner ist noch kräftig genug, die Pflänzchen herauszureißen. Aber das, was noch im letzten Roman Morduntersuchungskommission versprochen wurde, alle Morde aufzuklären, kann er schon nicht mehr.
Die einstige Parole „vom Ich zum Wir“ ist in ihr krasses Gegenteil verkehrt: die Ichs kennen kein Wir mehr, und dort, wo eines sich zeigt, ist die Stasi am nächsten. Das alles dröselt Annas mit großem Gespür für Details in viele Stimmen auf, führt einzelne Verdächtige vor, zum Schluss müssen sich die Leser selbst ein Bild machen. Erschossen wird der Falsche aus falschen Gründen. Und man trauert um die jungen Leute, deren Hoffnungen erstickt wurden.
Ich bin mir sicher: Max Annas‘ Morduntersuchungskommission ist das historisch wie literarisch interessanteste Projekt zur Zeit. Kein Kostümschinken wie Babylon Berlin, kein Ossi-Bashing, sondern klarer Kurs auf unangenehme und verzwickte Wahrheiten. Ich warte auf die Bände 3 und 4."
Das haben wir mit Absicht in voller Länge zitiert, denn Tobias Gohlis zeigt sich oft begeistert von bestimmten Kriminalromanen, aber eine Eloge wie diese ist selten.
Die Septemberausgabe der Krimibestenliste hat sechs Titel vom August übernommen. Darunter sind vier Kriminalromane, die wir im letzten Monat in eigenen Artikeln besprochen hatten. Unter Info finden Sie die Links vom letzten Monat. Aber bis heute ist Blues in New York aus dem Pendragon Verlag nicht eingetroffen. Immer wieder gehen auch Bücher unterwegs verloren. Das sieht man mit einem kleinen lachenden und großen weinenden Auge. Denn es ist ja schön, daß es bücherbegeisterte Personen auf dem Weg des Buches von der Auslieferung bis in unseren großen Briefkasten, aber es ist gemein, wenn WELTEXPRESSO dann keine eigene Rezension verfassen und veröffentlichen kann. Was allerdings MEIER von Tommi Goerz, Ars Vivendi, angeht, liegt die Sache anders. Die sehr zustimmende Kritik war schon geschrieben, aber die Redaktion fand dann, daß fünf Artikel zur Krimibestenliste August genug seien. Deshalb wird sie der zweite Artikel im September, also der nächste Beitrag.
Bleibt, in Kürze über die Neuen zu informieren, die wir nennen, aber noch nicht besprechen. Das sind diesmal vier Titel, alle auf Englisch! Allerdings einmal australisches Englisch, ein britisches Englisch, ein amerikanisches English und ein kanadisches Englisch auch noch. Zusammen bringen die drei männlichen und die eine weibliche Autorin 1688 Seiten Krimi.
Wenn es vier Neue gibt, dann müssen vier die Liste verlassen haben, die immer zehn Plätze vergibt. Das sind Guillermo Martinez, Der Fall Alice im Wunderlang, Eichborn, im Juli auf Platz 1, im August Dritter. Auch Hideo Yokoyama mit 50, veröffentlicht bei Atrium, im Juli auf Platz 2 und im August Fünfter ist ausgeschieden. Leider auch Eine wahre Freundin von William Boyle, der uns sehr gut gefallen hatte und im August auf Platz 4 einstieg. Genauso ging es Joseph Incardona, One-Way-Ticket ins Paradies, erschienen bei Lenos; dieserder Krimi kam im August neu auf den achten Platz. Manchmal allerdings kommen Krimis wieder. Denn die Jury arbeitet mit einem Punktesystem, das uns rätselhaft, den Eingeweihten aber erfolgreich ist.
Wir versuchen, die vier Neuen bald zu besprechen. Und sonst im Oktober, schau'n wir mal.
DIE KRIMIBESTENLISTE im September 2020
1(6)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro
Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige
tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck:
Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik,
Liebe und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht frei zu sein.
2(-)
Garry Disher
Hope Hill Drive
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 334 Seiten, 22 Euro
„Tiverton“, South Australia. Alles wie immer: Es wird geklaut, gesoffen, geprügelt,
Einsame sind einsam. Hirsch, allein auf sehr weiter Flur, ist „freundlicher Dorfpolizist“. Da wird eine Frau erschossen, zwei Kinder fliehen, Hauptstadt-Cops
schaffen Chaos. Große Literatur, entstanden aus Kleinem.
3(9)
Lauren Wilkinson
American Spy
Aus dem Englischen von Antje Althans et al.
Tropen, 366 Seiten, 16 Euro
USA, Burkina Faso. Ein überlebter Mordanschlag zwingt Marie Mitchell, sich
ihrer Vergangenheit zu stellen. Die CIA engagierte die ehrgeizige Afroamerikanerin
als Honigfalle für den charismatischen Präsidenten von Burkina Faso. Nicht
eingeplant im Kalten Krieg: die Liebe. Obama hat es gern gelesen.
4(-)
Parker Bilal
London Burning
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer.
Rowohlt, 494 Seiten, 12 Euro
London. Scharia-Fake? Die Frau des Immobilienmoguls Thwaite und ein Japaner
liegen gesteinigt in der Baugrube einer Luxuswohnanlage. DS Drake und Partnerin
ermitteln unter Gentrifizierungs- und Irak-Krieg-Traumatisierten, rechten Schlägern und rechtgläubigen Migranten. London vor der Auflösung.
5(-)
Steph Cha
Brandsätze
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Ars Vivendi, 336 Seiten, 22 Euro
Los Angeles. 1991 wurde Afroamerikanerin Ava, 15, von der koreanischen Ladenbesitzerin Yvonne erschossen, 2019 wird diese selbst Opfer eines Attentats. Nach
einem realen Fall und Mustern en masse erzählt Cha vom Kampf zweier Familien
beim persönlichen Versuch, dem Fluch des Rassismus zu entgehen.
6(1)
Zoë Beck
Paradise City
Suhrkamp, 280 Seiten, 10 Euro
Deutschland in 100 Jahren. Der Norden unter Wasser, Gesundheits-App KOS
wacht, fast alle sind zufrieden. Nur Liina und Kollegen widerstehen, sie arbeiten
für die „Wahrheitspresse“. Erst recht, als eine Kollegin ermordet wird. Gesund sein
oder frei sein? Brennende Fragen, zum Mitfiebern.
7(2)
Lee Child
Der Bluthund
Aus dem Englischen von Wulf Bergner.
Blanvalet, 448 Seiten, 22 Euro
Wyoming. Beim Umsteigen ersteht Reacher antiquarisch einen Westpoint-Ring,
ahnt Schlimmes für die Besitzerin. Im entlegensten Bergtal stößt der Einzelkämpfer, mit Kumpels diesmal, auf reine Opioide, Fluch und für manche auch
Segen. Reacher ist zarter als sonst, jedenfalls zu den Guten. Echt stark.
8(7)
James Lee Burke
Blues in New Iberia
Aus dem Englischen von Jürgen Bürger.
Pendragon, 586 Seiten, 22 Euro
New Iberia. Detective Robicheaux liebt Louisiana „wie eine Religion“. Und die
wird beschmutzt von einem Serienmörder aus der Mythenfabrik Hollywood:
Frauen treiben ans Kreuz genagelt auf dem Meer. Stellen kann das Böse nur, wer
den Tod hinter sich gelassen hat. Eine Naturgewalt von einem Roman.
9(10)
Tommie Goerz
Meier
Ars Vivendi, 164 Seiten, 18 Euro
Franken. Zehn Jahre hat Meier unschuldig gesessen für Mord. Jetzt ist er raus,
repariert Autos und hebt abgesunkene Scheunen. Schön ist das Leben, schöner die
Rache. Im Knast hat er gelernt, wie man Täuscher und Betrüger aufs Kreuz legt.
Knochentrocken serviert, die Ballade vom zufriedenen Knacki.
10(-)
Scott Thornley
Der gute Cop
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet und
Andrea O’Brien. Suhrkamp, 524 Seiten, 16 Euro
„Dundurn“ am Ontariosee. Leichen im Hafenbecken, wo ein Museum Dundurns
Zukunft werden soll. Superintendent MacNeice ist gefragt, ein resoluter Diplomat
der Aufklärung, dem nichts entgeht. US-Veteranen, ein Biker-Krieg, dazu ein
Serienmörder – Mac hat zu tun in seinem ersten deutschen Fall.
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?
An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Foto:
Cover
Info:
Besprechungen der Krimibestenliste im August 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19720-lee-child-mit-der-bluthund-blanvalet-auf-platz-2
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19742-lauren-wilkinson-american-spy-tropen-verlag-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19708-eine-wahre-freundin-von-william-boyle-polar-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1