sara sligarSerie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Oktober 2020 , Teil 2

Elisabeth Römer

Hamburg  (Weltexpresso) - Auf Platz 3 ist Sara Sligar mit ALLES, WAS ZU IHR GEHÖRT von Hanserblau eingestiegen. Allerhand, denn es handelt sich um ein Debut. Kate Aitken ist als Archivarin vom Sohn der Star-Kunstfotografin Miranda Brand beauftragt worden, deren seit 1993 ungeordneten Nachlaß zu sichten und zu ordnen. Sie beginnt, aber was als archivarische Aufgabe beginnt, wächst sich zu einer quasi Lebensaufgabe aus.

Das ist vom Auftraggeber, dem Sohn, nicht gewollt, sondern entsteht in Kate Aitken, weil sie in den Unterlagen erkennt, daß das Leben der durch Selbstmord verstorbenen Fotografin und Mutter durch die Gewalt von Männern geprägt war. Was sich Aitken bei sich selbst nicht in voller Schärfe eingesteht, erfahrene männliche Gewalt, kann sie nun bei Miranda Brand entlarven und unters Volk bringen. Dabei verwischen sich durchaus ihre eigenen Erfahrungen mit denen, die sie aus den Tagebüchern, Briefen, anderen Dokumenten der Fotografin entnimmt. Aber das bleibt nicht im Allgemeinen, bleibt nicht als eine vage Behauptung von Gewalt gegen Frauen, gegen diese Frau, irgendwo in der Luft, sondern wird von der Archivarin als ein Mord entlarvt: Miranda Brand ist von ihrem eigenen Mann und ihrem eigenen Sohn umgebracht worden, behauptet sie. 

Das Besondere daran ist, wie das Leben der einen sich erst in Selbsterkenntnis entlarvt, als sie das Leben der anderen durchforscht und analysiert. Die Fotografin soll nicht als Person, aber in ihren Werken an Cindy Sherman und Marina Abramovic orientiert sein. Das bedeutet für einen zeitgenössischen Krimi schon ein hohes Maß an Kunstfertigkeit und Ahnung von der Kunst.

Auf dem 5. Rang folgt Joachim B. Schmidts KALMAN vom Diogenes Verlag, der einzige neue deutschsprachige Krimi. Aber er spielt in Island. Das hat Gründe, denn Schmidt ist mit 26 Jahren von Graubünden nach Island ausgewandert, das war 2007 - der Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull war im Jahr 2010 - und er läßt mit Kalmann den 34jährigen Fischer und JÄger als auktorialen Erzähler einen ganz harmlosen, aber leicht zu verstörenden auf eine Blutlache und mehr treffen. Mehr wissen wir noch nicht, bis auf die Tatsache, daß Kalmanns Vater iAuf dem 8. Platz folgtm Roman ein US-Soldat war, der seinem Sohn einen Sheriff-Abzeichen, den dazugehörenden Hut und eine Mauser hinterlassen hat. Das allerdings hat mich sofort an die gerade gelesene und besprochene Hulda-Trilogie von Ragnar Jónasson, bei btb, erinnert, wo Hulda Hermannsdóttir, Kommissarin bei der Polizei Reykjavík, auch einen entschwundenen US-Soldaten als Vater hat, der ihr allerdings überhaupt nichts hinterlassen hat, als den Namen und ein Foto von ihm. Im zweiten Teil fliegt sie sogar in die USA, um ihn zu suchen und ihn zumindest zur Hälfte zu finden. Interessant, wenn die Geschichte Islands in Krimis aufgearbeitet wird. Island war im Kalten Krieg ein wesentliches Bollwerk gegen die UdSSR, aber wurde unwichtig, weshalb die USA ohne Zustimmung Islands ihre Soldaten vollständig abzogen. Das nur nebenbei. der Kri

Platz 7 besetzt JENER STURM von James Ellroy aus dem Ullstein Verlag. Ellroy ist der große Geschichte-Erzähler, um ihn von Geschichtenerzählern abzusetzen. Seine sehr sehr umfangreichen Romane arbeiten konsequent Amerikas Geschichte am Beispiel von Los Angeles auf. Nach dem ersten L.A. Quartett, das großen Ruhm erwarb, sind wir nun bei der Fortsetzung, L.A. Quartett 2 genannt, wo der erste Band hier 2015 als PERFIDIA ersschien, dem nun der Sturm folgt, der im Jahr 1942 spielt und wo der Kriegswahnsinn herrscht. 976 Seiten!

Auf dem 8. Platz folgt STADT, LAND, RAUB von Marcie Rendon, verlegt von Ariadne im Argument Verlag. Sie ist eine amerikanische Ureinwohnerin und daß es sich um einen Krimi handelt, wird spätestens dann deutlich, wenn die Cash, die native american, mitbekommt, daß weiße Mädchen entführt werden. Wir sind zu Beginn der 70er, als das Leben der Ureinwohner noch stark eingeschränkt von den weißen Eroberen, die sich stolz Amerikaner nennen, aber alle eingewandert, also Exilanten und Asylanten - oder eben Eroberer sind. Wir leben in Zeiten, wo alte Herrschaft und alte Herrschaften auf ihre Ursupationssünden gestoßen werden. 

HESSES BLUT von Un-Su Kim aus dem Europaverlag nimmt den 9. Rang ein. Der koreanische Autor hatte mit DIE PLOTTER 2018 den ersten Band einer 'Repugnacy'-Trilogie vorgelegt, dem jetzt der zweite folgt. Es ist ein Kunstkrimi, der sich auf im Gangstermilieu bewegt, das gleichzeitig gesellschaftliche als wohlanständig gilt. Mehr demächst.

FORTSETZUNG FOLGT


DIE KRIMIBESTENLISTE im Oktober 2020

1(2)
Garry Disher
Hope Hill Drive
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 334 Seiten, 22 Euro

„Tiverton“, South Australia. Alles wie immer: Es wird geklaut, gesoffen, geprügelt,
Einsame sind einsam. Hirsch, allein auf sehr weiter Flur, ist „freundlicher
Dorfpolizist“. Da wird eine Frau erschossen, zwei Kinder fliehen, HauptstadtCops schaffen Chaos. Große Literatur, entstanden aus Kleinem.

2(5)
Steph Cha
Brandsätze
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Ars Vivendi, 336 Seiten, 22 Euro

Los Angeles. 1991 wurde Afroamerikanerin Ava, 15, von der koreanischen Ladenbesitzerin Yvonne erschossen, 2019 wird diese selbst Opfer eines Attentats. Nach
einem realen Fall und Mustern en masse erzählt Cha vom Kampf zweier Familien
beim persönlichen Versuch, dem Fluch des Rassismus zu entgehen.

3(-)
Sara Sligar
Alles, was zu ihr gehört
Aus dem Englischen von Ulrike Brauns.
Hanserblau, 432 Seiten, 16 Euro

„Callinas“, Marin County. „Ob die Narben auf meinen Fotos echt sind?“ Fotografin Miranda Brand hat sich den Kopf weggeschossen – oder doch nicht?
Archivarin Kate, weggemobt, traumatisiert, soll ihren Nachlass für Sohn und
Kunstwelt erschließen. Psychothriller, Künstlerinnenroman, feines Debüt.

4(1)
Max Annas
Morduntersuchungskommission.
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro

Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige
tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck:
Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik,
Liebe und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht frei zu sein.

5(-)
Joachim B. Schmidt
Kalmann
Diogenes, 352 Seiten, 22 Euro

Raufarhöfn, Island. Kalmann vergisst viel und rechnet schlecht, aber sein Gammelhai ist der zweitbeste in Island. Als er am Arctic Henge eine Blutlache entdeckt,
sagt er gleich Bescheid. Hat ein Eisbär Róbert gefressen? Einfühlsame Variante des
Topos „behinderter Detektiv“ in grandioser Landschaft.


6(4)
Parker Bilal
London Burning
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer.
Rowohlt, 494 Seiten, 12 Euro

London. Scharia-Fake? Die Frau des Immobilienmoguls Thwaite und ein Japaner
liegen gesteinigt in der Baugrube einer Luxuswohnanlage. DS Drake und Partnerin
ermitteln unter Gentrifizierungs- und Irak-Krieg-Traumatisierten, rechten
Schlägern und rechtgläubigen Migranten. London vor der Auflösung.


7(-)
James Ellroy
Jener Sturm
Aus dem Englischen von Stephen Tree.
Ullstein, 976 Seiten, 35 Euro

Los Angeles, Baja California 1942. Weltkrieg aus Ellroys LAPD-Blickwinkel. Nazis und Kommis planen Totalitarismus, Dudley Smith plant grenzüberschreitende
Verbrechen, Japaner werden interniert. Kriegswahnsinn. Man braucht schon sehr
starke Nerven für diesen zweiten Band des L.A.Quartetts Zwei.


8(-)
Marcie Rendon
Stadt, Land, Raub
Aus dem Englischen von Jonas Jakob.
Ariadne im Argument Verlag, 238 Seiten, 13 Euro

Fargo / Moorhead, etwa 1971. Nachts fährt Cash Rüben und spielt Billard, tagsüber geht sie aufs College, verwundet durch eine Kindheit in Zwangspflegschaft.
Prostitution, Akademiker und große Städte lernt die Native American erst richtig
kennen, als sie einen Essay-Preis erhält. Großartig.


9(-)
Un-Su Kim
Heißes Blut
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Europaverlag, 582 Seiten, 24 Euro

Busan 1993. Guam – das ist Tradition, Strand, Verbrechen im Kleinformat. Für
Vater Son managt Huisu seit 20 Jahren dort das Hotel und die Deals, einsam und
besonnen achtet er die Regeln. Bis ihm Selbständigkeit winkt. Großes Sozial- und
Gangsterepos: Neu verdrängt Alt, Globalisierung steigert Gewalt.


10(10)
Scott Thornley
Der gute Cop
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet und
Andrea O’Brien. Suhrkamp, 524 Seiten, 16 Euro

„Dundurn“ am Ontariosee. Leichen im Hafenbecken, wo ein Museum Dundurns
Zukunft werden soll. Superintendent MacNeice ist gefragt, ein resoluter Diplomat
der Aufklärung, dem nichts entgeht. US-Veteranen, ein Biker-Krieg, dazu ein
Serienmörder – Mac hat zu tun in seinem ersten deutschen Fall.


Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?

WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de

Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?

An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.

Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“

Foto:
Cover

Info:
Besprechungen  der Krimibestenliste im August 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19742-lauren-wilkinson-american-spy-tropen-verlag-auf-platz-9
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19708-eine-wahre-freundin-von-william-boyle-polar-auf-platz-4
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1

Besprechungen der Krimibestenliste im September 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19941-morduntersuchungskommission-der-fall-melchior-nikoleit-von-max-annas
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19940-tommie-goerz-meier-bei-ars-vivendi-auf-platz-9

Neue isländische Krimi-Trilogie

 Bisherige Artikel
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19561-insel   vom 13. Juli
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19960-nebel  vom  23. September