Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im Oktober 2020 , Teil 4
Elisabeth Römer
Hamburg (Weltexpresso) – Wer wirklich in einem Krimi etwas Neues lesen will und tiefere Einblicke in die Welt der Ureinwohner Amerikas, der Native Americans, nehmen will, der sollte unbedingt zu diesem Roman der 1952 geborenen Autorin, die der White Earth Nation angehört. Das wird näher noch im Buch erläutert, daß diese Untergruppe zu den Anishinaabe gehören, die in Europa auch Ojibwe oder Chippewa genannt werden.
Die White Earth Reservation liegt in Minnesota, ca. 45 Meilen nordöstlich von Fargo, was uns früher wohl nichts gesagt hätte, heute aber durch den gleichnamigen Film 1996, der zum Kult wurde und derzeit zu einer Fernsehserie wurde, bekannter ist. Dort lebt die schon aus dem ersten Krimi von Marcie Rendon AM ROTEN FLUSS bekannte Cash. Das junge Mädchen heißt eigentlich Renée Blackbear und wenn man im Lauf des Geschehens ihre private Geschichte erfährt, versteht man sehr gut, daß sie mit einem neuen Namen sich auch in anderer Hinsicht neu erfindet. Einen Heidenrespekt vor diesem jungen Ding, ist das erste, was man fühlt. Daß sich die US-Amerikaner das Land der Indianer angeeignet hatten, weiß jedes Kind und auch, daß es durch deren Kampf immerhin Rückgabe von Land und diese Idee der Reservate gab. Aber sonst wissen wir hier eigentlich wenig. Schon von daher war das Lesen dieser 237 Seiten sehr informativ – und erschütternd.
Und dann kommt ein Krimi, der zunehmend immer spannender wird und in dessen Verlauf die Autorin auf wirklich kunstvolle Weise die oben angesprochenen Informationen über das Leben im nordöstlichen Minnesota mit dem Krimiverlauf vernetzt. Cash ist nämlich Studentin, die für Native Americans möglichen Stipendien nutzt sie zum Besuch der Moorhead State College, wo sie als Superstudentin gleich zwei wichtige Bereiche: Englisch und durch eine erfolgreiche Prüfung nicht mehr besuchen muß. Denn das Studium langweilt sie, weil sie alles schon weiß und wir im ersten Teil des Buches mit ihr ständig unterwegs sind. Geradezu schwindelig wird einem, wie sie zwischen ihrer Brotarbeit – nachts fährt sie Laster mit Zuckerrüben - , ihrer Leidenschaft – sie will Profi werden im Billard, ihren eigenen Pool-Queue hat sie fast immer dabei – und ihrem Studium bleibt nur für wenige Stunden Schlaf. Und in denen wacht sie von Albträumen auf, die immer dieselbe Situation zeigen: zuerst rennt sie und rennt im Matsch, in den Sumpf hinein, sie wird verfolgt, Todesangst, aber mitten im Traum erhebt sie sich in die Lüfte und schaut nach unten, wo die drangsalierte Person auf einmal zu einem blonden Mädchen geworden ist, die Cash in höchster Not zur Hilfe ruft.
Und so wird es auch kommen, zuvor aber ist wichtig, daß die Handlung wohl 1971 spielt, nur so ist es auch zu erklären, daß Cash eine Zigarette nach der anderen pafft, wie die meisten in ihrer Umgebung, die auch ständig Bier trinken, meist zu viel, und auch Hasch rauchen, was Cash ablehnt, denn sie will ihrem Mentor, dem einzigen Menschen, dem sie vertraut, keine Sorgen machen. Das ist der örtliche Sheriff Wheaton, der gute Geist, der ihr halb aus den Abhängigkeiten sich zu befreien. Wie hingetupft tauchen im Roman immer wieder Erinnerungen an die Kindheit auf, die für Cash zu Ende war, als ihre Mutter mit dem Wagen verunglückte und die vier Kinder von den Behörden getrennt wurden und in Pflegefamilien gesteckt wurden, wobei gesteckt das richtige Wort ist, denn sie wurden geschlagen, mißhandelt und wie Dienstboten behandelt, was für Cash Wheaton beendete.
So und jetzt kommt das Märchen. Denn diese Geschichte funktioniert nur, wenn man die äußeren Verhältnisse als sehr wirklich annimmt, aber das Geschehen doch immer wieder als durch einen deus ex machina gesteuert erlebt. Ein Märchen eben. Vom Ausgang her, aber erst einmal geht es um die Verwirklichung des Albtraums. Erst verschwindet ein blondes, kluges Mädchen, dann die nächste. Und sogar eine dritte und Cash will Wheaton helfen, die Mädchen aufzufinden, von denen ihr Bruder – ja, auch eine der märchenhaften und wunderbarsten Erfindungen im Kontext, da bricht ein junger Mann bei ihr ein, der behauptet, ihr Bruder Mo zu sein und es auch ist und dieselbe Leidenschaft für Billard und Bier hegt, im Gegensatz zu ihr aber häuslich ist, einkauft, kocht und eben immer zur Stelle ist, wenn man einen großen Bruder braucht – von den Mädchen also behauptet ihr Bruder, daß sie entführt wurden und als weiße Sexsklavinnen in den Städten vegetieren.
Da braucht Cash wirklich Nachhilfe, was im wirklichen Leben los ist, während sie akademisch Lorbeeren einheimst. Zum Märchen gehört eben auch, daß wir sie nie ernsthaft studieren sehen, aber sie immer die Beste ist. So auch bei der Prüfung, mit der sie Englisch abwählen will, und zu der neben Fragen auch das Schreiben eines Essays gehört, was sie so gut meistert, daß ihr Professor sie beim nationalen Wettbewerb der besten Arbeit anmeldet. Zum Preisverleihung will er sie in die Citys – das sind die Zwillingsstädte Minneapolis und St. Paul- mitnehmen. Sie ist grundsätzlich mißtrauisch und fährt lieber selber.
Und wie es dazu kommt, daß sie dann in den Citys tatsächlich die jungen Mädchen als Sexsklavinnen gefangengehalten, gequält, entwürdigt vorfindet, ja selbst zu einer Prostituierten werden soll, wie das kommt und wie sie mit Klugheit und Chupze alles zum Guten wendet, ist des Lesens wirklich wert. Man nimmt Abschied, aber fühlt doch, daß wir am Leben der Cash weiter beteiligt werden.
DIE KRIMIBESTENLISTE im Oktober 2020
1(2)
Garry Disher
Hope Hill Drive
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, 334 Seiten, 22 Euro
„Tiverton“, South Australia. Alles wie immer: Es wird geklaut, gesoffen, geprügelt,
Einsame sind einsam. Hirsch, allein auf sehr weiter Flur, ist „freundlicher
Dorfpolizist“. Da wird eine Frau erschossen, zwei Kinder fliehen, HauptstadtCops schaffen Chaos. Große Literatur, entstanden aus Kleinem.
2(5)
Steph Cha
Brandsätze
Aus dem Englischen von Karen Witthuhn.
Ars Vivendi, 336 Seiten, 22 Euro
Los Angeles. 1991 wurde Afroamerikanerin Ava, 15, von der koreanischen Ladenbesitzerin Yvonne erschossen, 2019 wird diese selbst Opfer eines Attentats. Nach
einem realen Fall und Mustern en masse erzählt Cha vom Kampf zweier Familien
beim persönlichen Versuch, dem Fluch des Rassismus zu entgehen.
3(-)
Sara Sligar
Alles, was zu ihr gehört
Aus dem Englischen von Ulrike Brauns.
Hanserblau, 432 Seiten, 16 Euro
„Callinas“, Marin County. „Ob die Narben auf meinen Fotos echt sind?“ Fotografin Miranda Brand hat sich den Kopf weggeschossen – oder doch nicht?
Archivarin Kate, weggemobt, traumatisiert, soll ihren Nachlass für Sohn und
Kunstwelt erschließen. Psychothriller, Künstlerinnenroman, feines Debüt.
4(1)
Max Annas
Morduntersuchungskommission
Der Fall Melchior Nikoleit
Rowohlt, 336 Seiten, 20 Euro
Gera, Jena 1985. Melchior war Bassist einer Punk-Band. Jetzt liegt der 19-Jährige
tot im Schuppen. Die Ermittler stöbern in unsozialistischem Familiendreck:
Kriegsverbrechen, Diebstahl, Prügel. Freundin Julia erzählt von Aufbruch, Musik,
Liebe und Verrat. Hommage an Punk, die Sehnsucht frei zu sein.
5(-)
Joachim B. Schmidt
Kalmann
Diogenes, 352 Seiten, 22 Euro
Raufarhöfn, Island. Kalmann vergisst viel und rechnet schlecht, aber sein Gammelhai ist der zweitbeste in Island. Als er am Arctic Henge eine Blutlache entdeckt,
sagt er gleich Bescheid. Hat ein Eisbär Róbert gefressen? Einfühlsame Variante des
Topos „behinderter Detektiv“ in grandioser Landschaft.
6(4)
Parker Bilal
London Burning
Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer.
Rowohlt, 494 Seiten, 12 Euro
London. Scharia-Fake? Die Frau des Immobilienmoguls Thwaite und ein Japaner
liegen gesteinigt in der Baugrube einer Luxuswohnanlage. DS Drake und Partnerin
ermitteln unter Gentrifizierungs- und Irak-Krieg-Traumatisierten, rechten
Schlägern und rechtgläubigen Migranten. London vor der Auflösung.
7(-)
James Ellroy
Jener Sturm
Aus dem Englischen von Stephen Tree.
Ullstein, 976 Seiten, 35 Euro
Los Angeles, Baja California 1942. Weltkrieg aus Ellroys LAPD-Blickwinkel. Nazis und Kommis planen Totalitarismus, Dudley Smith plant grenzüberschreitende
Verbrechen, Japaner werden interniert. Kriegswahnsinn. Man braucht schon sehr
starke Nerven für diesen zweiten Band des L.A.Quartetts Zwei.
8(-)
Marcie Rendon
Stadt, Land, Raub
Aus dem Englischen von Jonas Jakob.
Ariadne im Argument Verlag, 238 Seiten, 13 Euro
Fargo / Moorhead, etwa 1971. Nachts fährt Cash Rüben und spielt Billard, tagsüber geht sie aufs College, verwundet durch eine Kindheit in Zwangspflegschaft.
Prostitution, Akademiker und große Städte lernt die Native American erst richtig
kennen, als sie einen Essay-Preis erhält. Großartig.
9(-)
Un-Su Kim
Heißes Blut
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Europaverlag, 582 Seiten, 24 Euro
Busan 1993. Guam – das ist Tradition, Strand, Verbrechen im Kleinformat. Für
Vater Son managt Huisu seit 20 Jahren dort das Hotel und die Deals, einsam und
besonnen achtet er die Regeln. Bis ihm Selbständigkeit winkt. Großes Sozial- und
Gangsterepos: Neu verdrängt Alt, Globalisierung steigert Gewalt.
10(10)
Scott Thornley
Der gute Cop
Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet und
Andrea O’Brien. Suhrkamp, 524 Seiten, 16 Euro
„Dundurn“ am Ontariosee. Leichen im Hafenbecken, wo ein Museum Dundurns
Zukunft werden soll. Superintendent MacNeice ist gefragt, ein resoluter Diplomat
der Aufklärung, dem nichts entgeht. US-Veteranen, ein Biker-Krieg, dazu ein
Serienmörder – Mac hat zu tun in seinem ersten deutschen Fall.
Die Krimibestenliste, wo kann man sie lesen, wer erstellt sie, wo wird sie veröffentlicht?
WO? außerhalb von WELTEXPRESSO
Die Krimibestenliste auf Deutschlandfunk Kultur
www.deutschlandfunkkultur.de
Die Krimibestenliste erscheint am ersten Sonntag des Monats: www.faz.net
Die zehn besten Kriminalromane der Monate in 2020 sind allerdings nur noch über online verfügbar. In der Vergangenheit veröffentlichte die FAS, die Sonntagszeitung der FAZ, an jedem ersten Sonntag im Monat die jeweilige Liste im Feuilletonteil. Leider gibt es die Liste seit 2020 nur noch im Internet. Ob die FAZ und FAS wissen, welche Einbuße sie damit bei Krimilesern erfahren?
An jedem ersten Sonntag des Monats geben 19 Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen mit Deutschlandfunk Kultur.
Die Jury:
Tobias Gohlis, Sprecher der Jury |
Volker Albers, „Hamburger Abendblatt“ |
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, BR |
Gunter Blank, „Rolling Stone“ |
Thekla Dannenberg, „Perlentaucher“ |
Hanspeter Eggenberger, „Tages-Anzeiger“ |
Fritz Göttler, „Süddeutsche Zeitung“ |
Jutta Günther, „Radio Bremen Zwei“ |
Sonja Hartl, „Zeilenkino“, „Culturmag“, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Hannes Hintermeier, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ |
Peter Körte, „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ |
Alf Mayer, „Culturmag“, „Strandgut“ |
Kolja Mensing, „Deutschlandfunk Kultur“ |
Marcus Müntefering, „Der Spiegel“ |
Ulrich Noller, „Deutschlandfunk Kultur“, „Deutschlandfunk“, SWR, WDR |
Frank Rumpel, SWR |
Ingeborg Sperl, „Der Standard“ |
Sylvia Staude, „Frankfurter Rundschau“ |
Jochen Vogt, „NRZ“, „WAZ“
Foto:
Cover
Info:
Besprechungen der Krimibestenliste im August 2020
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19706-paradise-city-von-zoe-beck-suhrkamp-auf-platz-1
Besprechungen der Krimibestenliste im September 2020
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https://weltexpresso.de/index.php/buecher/19940-tommie-goerz-meier-bei-ars-vivendi-auf-platz-9
Besprechungen der Krimibestenliste im Oktober
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