Deutscher Buchpreis 2020, Sechserliste, Teil 17
Manfred Schröder
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Mit diesem Roman haben wir das einzige Debüt unter der Zwanzigerliste, das es zudem auf Anhieb auf die Liste der Finalisten schaffte. Das ist ein Ereignis. Außerdem ist es der Roman, der am stärksten von allen einen sozialkritischen Inhalt hat, ohne daß dies überhaupt einen sozialkritischen Touch hätte, so nüchtern erzählt die Autorin von ihrer Herkunft, ihrem Aufwachsen im westlichsten Vorort Frankfurts.
Wir stellen uns vor, daß dies eine Melange zwischen erlebtem Leben und fiktionalen Anteilen ist und von daher symptomatisch das Leben derer beschreibt, die sich selbst am Rande der Gesellschaft sehen und nicht mal mit Unmut oder Gegenwehr darauf reagieren, sondern versuchen zurechtzukommen. Der Vater der Icherzählerin kommt aus der Türkei, seit er 16 Jahre alt ist, arbeitet er hier, was zum Industriepark wurde und einmal Teil der Farbwerke Hoechst war, einer schlimmen Chemieklitsche, die häßliche Wolken, immer wieder giftige, über dem Westen Frankfurts ausbreitete. Die Farbwerke und ihre Arbeiter waren eine Institution und nicht nur für den Frankfurter Raum, sondern ein erfolgreicher Betrieb, der sich mit anderen Chemiebetrieben zu den I.G. Farben zusammenschloß, wobei die Farbwerke diejenigen waren, die nazitreu zur Vergasung der Häftlinge Zyklon B in die Konzentrationslager lieferten. Die Belegschaft kam aus ganz Hessen, 1963 zum Hundertsten feierten sich die Farbwerke durch den Bau der Jahrhunderthalle, 1969 erreichten sie einen Umsatz von 10 Milliarden DM, der sich steigerte, als Anfang der 1980er Jahre die Farbwerke Hoechst das nach Umsatz größte Pharmaunternehmen der Welt wurde, zehn Jahre später 180 000 Beschäftigte hatte, zu denen der Vater der Studentin gehört, die nach Hause zurückkehrt, und mit klarem Blick das Umfeld ihrer Familie erfaßt.
Daß der Vater jetzt im Industriepark beschäftigt ist, gehört zu den kapitalistischen Verbrechen, denn die Farbwerke wurden aufgekauft und zerschlagen, eine schlimme Geschichte, wenn man weiß, wie sozial verträglich ursprünglich die Arbeiterschaft in Farbwerkersiedlungen in kleinen Häusern über Generationen hinweg lebten. Doch das Klassenbewußtsein gibt es nicht mehr, nur noch die Klasse, die soziologisch heute Unterschicht genannt wird, genannt wurde, muß man sagen.
Der Blick der jungen Frau auf ihre Kindheit und Jugend ist ein illusionsloser, kein anklagender, das überläßt sie dem Leser, der Leserin, denn dieses Buch fordert einen heraus, wütend zu werden angesichts von Bildungsbenachteiligung und Arroganz derer, die eigentlich, wie die Lehrer der Icherzählerin, dazu da wären, gerade solche Schüler zu fördern. Stattdessen überlebte das Mädchen auch deshalb Schule und Elternhaus, weil sie keine Erwartungen hegt, also auch nicht enttäuscht wird. Da die Autorin grundsätzlich ihre eigene Situation schildert, müßten sich ihre Lehrer, vor allem der eine, schämen. Mit den Eltern ist das schwieriger. Die Mutter war stolz auf die Tochter, die Deutsche wurde, denn damit sei ein besseres Leben verbunden, da ist sie sicher, aber die Tochter konnte die Mutter nicht halten, als diese den trunksüchtigen und gewaltbereiten Ehemann verließ, was ja emanzipatorisch klingt, aber weniger, wenn man mitbekommt, daß sie die Tochter bei einem solchen Vater zurückließ.
Gestalterisch produktiv läßt die Icherzählerin ihre Mädchenjahre spiegeln durch Sophia, die aus besseren Verhältnissen kommt und eigentlich naiv auf die Unterschiede reagiert, die das Leben des Mädchens im Gegensatz zu ihrem eigenen bestimmen. Das hat etwas Rührendes wie Ungeheuerliches, denn das Mädchen sieht ja in ihr die Freundin und erlebt ständig, daß Sophia überhaupt kein Empfinden für ihre Situation hat. Die Empfindungslosigkeit ihrer Umwelt ist überhaupt das Thema dieser Wiederkehr als Erwachsene ins Elternhaus. Traurig.
Aber die Autorin ist dann wieder der beste Beweis, daß sich jemand trotz widriger Bedingungen entwickeln kann und sein Leben, was hier ihr Leben ist, in die Hand nimmt. Trotzdem traurig.
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Umschlagabbildung
Info:
Deniz Ohde, Streulicht, Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42963-1