Deutscher Buchpreis 2020, Sechserliste, Teil 19
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – In dieses mit 206 Seiten eher schmales und eher kleinformatiges Buch habe ich mich schon nach den ersten Seiten verliebt. Und das liegt nicht an der Hauptfigur, dieser Annette – doch, doch, die Bewunderung für die Heldin kommt später - , sondern an der Art und Weise, wie Anne Weber zart und zärtlich, komisch und mit feiner Ironie, ernsthaft und gründlich, leicht und leidenschaftlich ihrer Heldin deren Leben in gleichmäßiger Versform auf den Leib schreibt.
Allein die Idee ist wundersam und man kann der Autorin, die kritisch befragt wurde, ob nicht die Zeiten der Heldenverehrung, also des klassischen Heldenepos vorbei sei, nur sekundieren, als sie antwortete, ein Heldenepos, also über einen Mann zu schreiben, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, aber für Anne, genannt Annette Beaumanoir sei das genau das Richtige. Stimmt, pflicht man ihr nach dem Lesen bei. Lesen?, was doch eigentlich ein Gleiten ist, ein Gleiten über Zeilen und Strophen, über Worte, Namen und Ereignisse. Schade, daß meine Worte nur in die Luft gesprochen waren, denn ich las alleine, aber, was kein Roman, durchaus Gedichte und auf jeden Fall dieses Heldinnenepos zuwege brachten, war, daß ich immer wieder laut las, laut intonierte, schon um selbst dem Klang nachzulauschen.
Das Eigentümliche wurde mir, daß etwas Spielerisches im Text immer wieder in den Vordergrund tritt, während ja der Inhalt, das Leben dieser Annette ein schwieriges ist, sonst wäre sie ja auch nicht Heldin genannt. Diese Ambiguität liegt am Witz der Autorin, das Spielerische stellt sich ein, wenn sie einerseits die angemessene Würde ihrem Gegenstand, der furiosen Annette gegenüber wahrt, dann aber im Erzählen in Versform, wo sich die Zeilen ja nicht reimen, aber dennoch graphisch und beim Lesen einen spezifischen Rhythmus erzeugen, daß sie also in Alltagssprache ihre eigenen Kommentare beifügt, indem sie von ‚okay, okay‘ spricht oder auf andere Art die Heldin, die Geschichte oder ihre Art des Erzählens kommentiert.
Das ist so lässig wie es das Ernsthafte fokussiert, denn es geht um was im Leben der Annette Beaumanoir, die am 30. Oktober 1923 in der Bretagne geboren, zur mehrfachen Widerstandskämpferin wird. Sie sind eben so die Zeiten. Besser, als es der Klappentext tut, kann man es eigentlich nicht zusammenfassen: „Mit neunzehn Jahren trat Anne Beaumanoir der kommunistischen Résistance bei, mit neunzehneinhalb verstieß sie gegen deren Regeln, indem sie zwei jüdischen Jugendlichen das Leben rettete.“ Sie überlebt die Deutschen, studiert in Marseilles Medizin, wird Professorin für Neurologie, heiratet einen Mediziner, bekommt Kinder, ein normales bürgerliches Leben wäre nun die Folge, wenn nicht, ja wenn nicht die nächste politische Katastrophe Frankreich ereilte, die Retourkutsche für die französische Kolonialmacht : der Aufstand der Algerier, der zum Algerienkrieg wird – Dorothee Elmiger wird in IN DER ZUCKERFABRIK über den ersten Staat schreiben, der sich von der französischen Knechtschaft schon ab 1791 befreit, was 1804 vollendet ist. Doch Haiti ist weit weg und relativ wenige Franzosen leben dort, zudem wenige Haitianer in Frankreich, doch Algerien liegt vor der Tür und dort leben sehr viele Kolonialisten, die sich nicht mal so empfinden, es aber sind, und in Frankreich leben auch viele Algerier. Knapp zehn Jahre nach dem siegreichen Kriegsende gegenüber Deutschland beginnt am 1. November 1954 der Algerienkrieg, der bis zum 19. März 1962 währt und mit der Niederlage Frankreichs endet, was mit dem Abkommen von Évian, ja, woher heute das Wasser vom Genfer See kommt, festgeschrieben wird.
Wir erleben, wie Heldin Anne in das Geschehen verflochten wird, wie sie der neuen Résistance, jetzt die gegen die Kolonialmacht Frankreich, beitreten muß, der Befreiungsbewegung FLN , der Front de Libération Nationale, die später zur siegenden Partei in Algerien wird und die in Kairo Ben Bella gegründet hatte. Aber sie ist Französin, nicht Algerierin, schon denen nimmt Frankreich das Unabhängigkeitsstreben übel, wie erst einer Französin, die sozusagen ihr Vaterland verrät. Sie wird verhaftet und zu 10 Jahren Haft verurteilt, aber jetzt kommt der Teil vom Heldinnenepos, ohne das sie nicht zur Heldin geworden wäre. Sie kann fliehen, erst nach Tunesien, dann nach Algerien, wo sie Frantz Fanon kennenlernt und über ihn in die Regierungsmannschaft von Ben Bella gerät, dem ersten algerischen Präsidenten, für den sie das Gesundheitssystem aufbaut, dann beim Putsch 1965 erneut fliehen muß.
Bei der Kenntnisnahme einer solchen Lebensleistung, der ja heute noch lebenden Französin, fühlt man Scham, daß man das alles nicht weiß, wo doch allein ihre Nennung zusammen mit ihren Eltern in Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern bekannt sein sollte, einen Ehrentitel, den sie erhielt, weil die Familie konkret zwei Judenkinder verstecken konnte, die nur so überlebten. Immer wieder wird es das Besondere sein, daß sie einzelnen Menschen helfen kann, nicht einem ganzen Volk. Seltsam, daß über sie und ihr Leben noch kein Film gedreht wurde; ist es, weil sie kein Mann ist? Und daß sie eine zweibändige Autobiographie schrieb, die auf Deutsch vorliegt, wußten wir auch nicht.
Nach HELDINNENEPOS will man gar nicht unbedingt deren eigene Anne-Annette -Lebensbeschreibung lesen, denn durch die Augen von Anne Weber ist ein so eindrucksvolles Frauenporträt entstanden, das man lieb gewinnt und behalten möchte. Eine so politische wie poetische Leistung.
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Info:
Annette, ein Heldinnenepos, Matthes & Seitz,
ISBN 978-3-95757-945-7