Felicitas Schubert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - "Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!", schreibt Bert Brecht und auch wenn seine Zeiten noch finsterer waren, so sind doch auch die unseren coronabedingten furchtbar. Und jetzt geht es nicht um die Kranken und Toten, sondern um die Vernichtung von wohltuenden Ritualen, wie es die Verleihung des Deutschen Buchpreises im Kaisersaal des Frankfurt Römer seit ihrem Beginn 2005 geworden ist. Auch wenn man grundsätzlich skeptisch bleiben muß, beim Anspruch 'das beste Buch', 'den besten Roman' könne man ermitteln, noch dazu durch Mehrheitsvotum, ist dieser Umstand doch eigentlich längst Grundlage der Entscheidungen, in der eine der Möglichkeiten gewinnt.
Und diese Möglichkeiten werden für die 200-300 Leute im Kaisersaal ansonsten lustvoll und informativ vorgeführt. Durch Vorlesen aus den ausgewählten sechs Romanen, durch kurzweilige Filme über die sechs Finalisten, durch ein Interview mit der Juryvorsitzenden, die alle deutlich machen,wie offen meist die Entscheidung ist und wie nahe beieinander die liegen, die es zu den letzten Sechs geschafft haben. Auch diesmal gab es nicht "den einen" Favoriten, aber mit Anne Weber waren dies Dorothee Elmiger, auch Thomas Hettche. Und nun ist die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2020 Anne Weber, der wir herzlich gratulieren und uns mit ihr und dem Verlag freuen. Sie erhält die Auszeichnung für ihren Roman „Annette, ein Heldinnenepos“ , der bei Matthes & Seitz Berlin erschienen ist, was ein weiterer Grund für Freude ist, denn im Kreis der Buchpreisträger ist dieser Verlag mit dem besonderen Programm nicht unbedingt zu erwarten...ist aber nun schon zum zweiten Mal dabei, denn 2015 hatte Frank Witzel den Deutschen Buchpreis aus dem Verlag Matthes & Seitz mit dem abenteuerlichen Titel "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" ebenfalls erhalten.
Die Begründung der Jury:
„Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen: Es ist atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt und mit welcher Leichtigkeit Weber die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir zu einem Roman über Mut, Widerstandskraft und den Kampf um Freiheit verdichtet. „Annette, ein Heldinnenepos“ ist eine Geschichte voller Härten, die Weber aber mit souveräner Dezenz und feiner Ironie erzählt. Dabei geht es um nichts weniger als die deutsch-französische Geschichte als eine der Grundlagen unseres heutigen Europas. Wir sind dankbar, dass Anne Weber Annette für uns entdeckt hat und von ihr erzählt.“
Die Autorin
Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber wurde 1964 in Offenbach geboren und lebt seit 1983 in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u.a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Georges Perros, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. 2020/21 ist Anne Weber Stadtschreiberin in Bergen-Enkheim.
Die Autorin über ihr Buch
...Anne Weber sagte, sie sei sich sehr bewusst, "dass der Erfolg dieses Buches nicht allein meiner Erfindungsgabe und meiner Gestaltungsgabe zu verdanken ist, sondern der Frau, deren Geschichte ich hier erzähle". Die 96-jährige Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir sei "die Heldin nicht nur dieses Buches, sondern eine wirkliche Heldin". Weber hatte Baumanoir bei einer Podiumsdiskussion in Südfrankreich kennengelernt. Die Französin gab ihr Einverständnis, dass Weber ihr Leben in Romanform verarbeitet. "Sie hat mir vertraut und alle Freiheiten gelassen."
Ihr Verdienst sei es vielleicht gewesen, Anne Beaumanoirs Geschichte "einen Rhythmus gegeben zu haben", sagte Anne Weber in ihrer Dankesrede. Ihr Buch sollte freilich keine Biografie werden, sondern ihr persönlicher Blick auf dieses Leben. Dabei habe sie versucht, so wenig wie möglich dazu zu erfinden. Die alte Dame habe der Veröffentlichung zugestimmt, aber gesagt: "Das bin ja gar nicht ich!"
Beaumanoir engagierte sich in den 1940er Jahren in der französischen Widerstandsbewegung, der Résistance. 1944 rettete sie in Paris jüdische Kinder vor den Nazis. Die Jury sprach deshalb von einer "deutsch-französischen Geschichte als eine der Grundlagen unseres heutigen Europas". Der Roman sei jedoch nicht politisch, betonte Anne Weber gegenüber der Presse. "Es ist ein Erzählungswerk", erklärte sie. Das Buch sei keine Stellungnahme zu politischen Fragen.
Weber hatte eigentlich gedacht, dass ihr Roman in Frankreich größeren Erfolg haben werde als in Deutschland. Mit dem Buchpreis könnte sich das nun ändern.
Weber selbst übersetzt ihre Bücher, sobald sie geschrieben sind. Anfänglich schrieb sie auf Französisch und übersetzte ins Deutsche. Diesmal verfasst sie ihren Texte in deutscher Sprache, um sie danach ins Französische zu übertragen.
Die 55-jährige Offenbacherin lebt seit Jahren in Frankreich. Als echte Französin sieht sie sich jedoch. "Ich fühle mich fremd in Paris, weil ich dort nicht meine Kindheitserfahrungen gemacht habe."
Das Buch
Was für ein Leben! Geboren 1923 in der Bretagne, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, schon als Jugendliche Mitglied der kommunistischen Résistance, Retterin zweier jüdischer Jugendlicher — wofür sie von Yad Vashem später den Ehrentitel »Gerechte unter den Völkern« erhalten wird –, nach dem Krieg Neurophysiologin in Marseille, 1959 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wegen ihres Engagements auf Seiten der algerischen Unabhängigkeitsbewegung... und noch heute an Schulen ein lebendiges Beispiel für die Wichtigkeit des Ungehorsams. Anne Weber erzählt das unwahrscheinliche Leben der Anne Beaumanoir in einem brillanten biografischen Heldinnenepos. Die mit großer Sprachkraft geschilderten Szenen werfen viele Fragen auf: Was treibt jemanden in den Widerstand? Was opfert er dafür? Wie weit darf er gehen? Was kann er erreichen? »Annette, ein Heldinnenepos« erzählt von einer wahren Heldin, die uns etwas angeht.
Die Jury
Der Jury für den Deutschen Buchpreis 2020 gehören an: Katharina Borchardt (Literaturredakteurin, SWR2), Hanna Engelmeier (Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI) und Autorin), David Hugendick (Literaturredakteur, Zeit Online), Chris Möller (Literaturvermittlerin bei Kabeljau & Dorsch, Berlin), Maria-Christina Piwowarski (Buchhandlung ocelot, Berlin), Felix Stephan (Literaturredakteur, Süddeutsche Zeitung) und Denise Zumbrunnen (Buchhandlung Never Stop Reading, Zürich).
„Verlässlich und wie kaum eine andere Auszeichnung bestärkt der Deutsche Buchpreis das Gespräch über Bücher in Deutschland. Etwas, das in diesem Jahr wichtiger ist denn je. Verlage mussten pandemiebedingt viele Lesungen absagen, Neuerscheinungen verschieben, Möglichkeiten für Begegnungen mit Autor*innen fielen weg. Ich danke allen Beteiligten, Freund*innen und Förder*innen, die sich – auch unter erschwerten Bedingungen – auf das Projekt Deutscher Buchpreis eingelassen haben und die der deutschsprachigen Romanliteratur gemeinsam eine so wichtige Bühne bereiten“, sagt Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.
Für die Auszeichnung waren außerdem nominiert:
Bov Bjerg, Serpentinen (Claassen), Dorothee Elmiger, Aus der Zuckerfabrik (Carl Hanser), Thomas Hettche, Herzfaden (Kiepenheuer & Witsch), Deniz Ohde, Streulicht (Suhrkamp) und Christine Wunnicke, Die Dame mit der bemalten Hand (Berenberg).
Anne Weber erhält ein Preisgeld von 25.000 Euro; die fünf Finalist*innen erhalten jeweils 2.500 Euro. Die Preisträgerin wurde in mehreren Auswahlstufen ermittelt. Die sieben Jurymitglieder haben seit Ausschreibungsbeginn 206 Titel gesichtet, die zwischen Oktober 2019 und dem 15. September 2020 erschienen sind. Aus diesen Romanen wurde eine 20 Titel umfassende Longlist zusammengestellt. Daraus haben die Juror*innen sechs Titel für die Shortlist gewählt. Die Preisverleihung fand in diesem Jahr als Livesendung aus dem Frankfurter Römer statt.
Mit dem Deutschen Buchpreis 2020 zeichnet die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels den deutschsprachigen Roman des Jahres aus. Förderer des Deutschen Buchpreises ist die Deutsche Bank Stiftung, weitere Partner sind die Frankfurter Buchmesse und die Stadt Frankfurt am Main. Die Deutsche Welle unterstützt den Deutschen Buchpreis bei der Medienarbeit im In- und Ausland.
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Info:
Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos
Gebunden mit Schutzumschlag
208 Seiten | 22 Euro |
Unter dem Hashtag #buchpreisbloggen stellen 20 Literaturblogger*innen die nominierten Titel 2020 vor. Die Rezensionen werden unter www.deutscher-buchpreis-blog.de veröffentlicht und über die Social-Media-Kanäle des Deutschen Buchpreises geteilt. Auf der Webseite und den Social-Media-Kanälen des Deutschen Buchpreises vermitteln zudem Videoporträts einen Eindruck von den nominierten Werken und ihren Autor*innen.
www.deutscher-buchpreis.de.
Die WELTEXPRESSO REZENSION von ANNETTE, ein HELDINNENEPOS
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