Serie: Rund um FEUCHTGEBIETE von Charlotte Roche, Teil 2/4

 

 

Anna von Stillmark

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Was uns anläßlich des Anlaufens von FEUCHTGEBIETEN am 22. August spontan einfiel, verwirklichen wir anläßlich des Abdrucks des Filmgespräch unseres Kollegen, nämlich unsere Kritiken unmittelbar nach Erscheinen des Buches im Kontext des Films erneut abzudrucken. Denn wenn der Film nun das Buch akzeptabler mache, was viele meinen, hilft nur eins: lesen!

 

Wäre man die Erzählerin, die 18jährige Helen Memel, würde man gleich versuchen, das reliefartige Pflaster, das auf dem Buchtitel klebt, abzupulen, um drunter zu schauen, welches Blut- und Eitergemisch sich darunter verbirgt. Das könnte man, wäre man Helen, zum einen gut verspeisen, schmeckt nämlich Helen lecker und ekelt die anderen, was zum Genuß von Helen beiträgt. Gleichzeitig wäre dies darunterliegende, durch das Pflaster der gesamten Welt gegenüber als unsichtbar erklärte Blut- und Eitergeschwür das Symbol für unsere Welt, die nach außen gut geschminkt, sauber rasiert, mit allen chemischen Düften versehen so tut, als ob der Mensch kein animalisches Wesen mehr sei, sondern eine synthetische Erfindung der modernen Industriegesellschaft, wo es nur noch eines kleinen Schrittes bedarf, diese Synthetisierung dann gleich virtuell werden zu lassen. Die Entmenschlichung des Menschen sozusagen, aber diesmal nicht durch Entseelung und schlimme Verbrechen, sondern gleich durch Entkörperlichung. Dagegen setzt die Autorin Charlotte Roche die Ekelgeschichte ihrer „Feuchtgebiete“.

 

Wir, die Redaktion von Weltexpress, halten dies Buch der unkonventionellen Fernsehmoderatorin und Neunundzwanzigjährigen für so wichtig einerseits, für so vielschichtig – ja, eklig gehört auch dazu - andererseits, daß wir diese vielen Schichten gleich mehrmals besprechen lassen. Einmal spricht eine der mittleren Generation den Widerstand an, den sie bei Buch und Autorin eigentlich ausmacht, einmal diagnostiziert ein männlicher Psychotherapeut im Doppelpack –beide schon älter - die Erzählerin als klinischen Fall, einmal sagt eine Jüngere ihre Meinung zum Ganzen. Die Rezensionen gehören zusammen, weil sie jeweils einen eigenen Schwerpunkt haben. Dieser Besprechung geht um das, was die Autorin in Interviews ihren Kampf gegen die „Amerikanisierung“ der Frau nennt.

 

„Gepflegte Frauen habe Haare, Nägel. Lippen, Füße, Gesicht, Haut und Hände gemacht. Gefärbt, verlängert, bemalt, gepeelt, gezupft, rasiert und gecremt. Sie sitzen steif wie ihr eignes Gesamtkunstwerk rum, weil sie wissen, wie viel Arbeit darin steckt, und wollen, daß es so lange wie möglich hält. solche Frauen traut sich doch keiner durchzuwuscheln und zu ficken. Alles, was als sexy gilt, durcheinandere Haare, Träger, die von der Schulter runterrutschen, Schweißglanz im Gesicht, wirkt derangiert, aber anfaßbar.“ (106), wäre so ein Zitat aus dem Buch, das die eigentliche Zielrichtung der Autorin, die sie in Interviews äußert, angibt und wo die Erzählerin Helen und die Autorin Charlotte tatsächlich einmal in Eins fallen. Das nämlich ist die große Gefahr beim naiven Lesen, daß man die Icherzählerin tatsächlich für die Autorin selbst hält.

 

Dies aus zwei Gründen. Zum einen ist der als innerer Monolog geschriebene Gedanken-, Gefühls- und Handlungsfluß – in Teil 3/4 genau nachvollzogen – in einer Umgangssprache und teilweisem Jugendjargon geschrieben, der den Text von allein weiterlesen läßt, zum anderen kann man sich oft gar nicht vorstellen, woher die Autorin ihr Wissen und ihre Erfahrungen, gespickt mit Phantasie, hernimmt, um Derartiges überhaupt niederschreiben zu können. Sicher ist es eine Melange aus allem, die wir hier auch nicht aufdröseln wollen, nur zart andeuten, daß die Erfahrungsdichte der 18jährigen, was das männliche Glied, Beischlaf, Krankheiten und das Leben angeht uns gewaltig erscheint und auch traurig macht, sind wir doch erwachsen und haben positive Liebeserfahrungen, was lustvolle Liebe angeht, weil Lust und Liebe für uns zusammengehören. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, daß hier jemand provokant mit den Mitteln der Übertreibung etwas aussagen möchte, was wir herausschälen wollen.

 

Das ist zum einen die Sprachlosigkeit, die Männer und Frauen angesichts der weiblichen Sexualorgane befällt. Ja, wie nennen wir sie nun, die kleinen Teilchen, die jedes für sich einen eigenen Namen verdient? Auch die renitente Erzählerin beläßt es bei „Muschi“, ein Begriff, der für die Rezensentin, auch wenn sie wohl eine hat, so grauslich ist, daß er ihr gleich einen Scheidenkrampf verursachen könnte, weil sie eben sprachempfindlich ist. Über Scheidenkrampf spricht die Erzählerin nie, obwohl man diesen bei der Wiedergabe ihrer Sexualpraktiken – seien es männliche Organe oder Duschköpfe oder Avocadokerne, die wir übrigens auch züchten - schnell bekommen kann. Dazu gleich. Vorher aber mehr als ein Lobeswörtchen für die Autorin. Sie gönnt nämlich ihrer Erzählfigur eine weibliche Individualisierung durch Sprache: „ Mein Muschijucken kann nur durch starkes Auskratzen gestillt werden. Ich kratze zwischen den inneren Schamlippen, von mir Hahnenkämme genannt, und den äußeren Schamlippen, von mit Vanillekipferl genannt, …“ Das setzt sich auch in anderen Textstellen fort. Sie erfindet sogar immer wieder Wörter, die man sofort versteht. Allerdings konnte ich lange mit ‚Poritze’ nichts anfangen, weil ich beim Lesen das ‚i’ betonte, bis ich merkte, daß dies weder ein Fremdwort noch eine Erfindung ist.

 

So ist das Lesen dieses Buches immer auch eine Erfahrung mit sich selbst. Wieviel halte ich aus, wie oft will ich das Buch voller Widerwärtigkeiten in die Ecke schmeißen, wie oft mich übergeben? Aber hier wir wollten das Wesentliche über den Inhalt hinaus angeben. „Da bei mir der Arsch offensichtlich zum Sex dazugehört, ist er auch diesem modernen Rasurzwang unterworfen wie meine Muschi, meine Beine, meine Achselhöhlen, der Oberlippenbereich, beide große Zehen und die Fußrücken auch.“ (9) Die Erzählerin beschreibt hier eine Tatsache, die in Amerika schon lange zum guten Ton gehört und in gleichem Maße für die Männer gilt.

 

Von Amerika ausgehend existiert eine Hygienehysterie, geht ein „Hygienefeldzug“ über die Welt, von dem die Kosmetikabteilungen der Fünf-Sterne-Hotels in aller Welt profitieren, indem die Epilation als das Heil und die neue Form des gesunden Volksempfindens propagiert wird. Widerlich. Nur leider sind wir gewohnt, bei Eiter und Dreck und Aufessen von Popel und anderen Körperexkrementen von ’Widerlichkeit’ zu reden, und zu wenig uns gegen das Widerliche bei der angeblichen Hygiene zu wenden. Was soll schön sein an einem Menschen ohne Körperhaare? Und an einem, der nach Chemie riecht? Welchem Diktat unterwirft sich da die westliche Welt? Und da der Westen ideologisch die Welt beherrscht, bald die ganze Welt?

 

Das ist wirklich so und ich muß mich nur an den Schock erinnern, den unsere sehr liebe amerikanische Cousine erlitt, als sie uns mit echten Achselhaaren wahrnahm. Tags darauf hing – wortlos - eine teure, formschöne, supermoderne ‚Venus’ von Gillette an der Innenwand der Besucherdusche. Die hängt nun da, unbenutzt. Wir finden nämlich unsere Haare schön und zart und angenehm. Und wir denken nicht daran, die amerikanische Körperhysterie, die wir für körper- und lustfeindlich halten, mitzumachen. Man muß sich diese Entwicklung nur weiterdenken. Dann muß irgendwann auch der Beischlaf daran glauben. Igittigitt! Da gibt es doch Sperma, das tropft und gleich muß ich an die Ehefrau eines alten Freundes denken, die ihm jedes Mal ‚zuvor’ ein Taschentuch in die Hand drückte, damit ‚danach’ nichts aufs Laken geriet. Wenn man mit dem Sauberkeitswahn – und es ist ein Wahn, es gibt nicht umsonst Waschzwänge – erst einmal anfängt, wo soll das enden? Hygiene ja, aber Wahn nein.

 

Frauenärzte wissen, welch Unheil Intimsprays auslösen können, schon körperlich, indem die eigene Flora zerstört werden kann, die nötig ist, um die weiblichen Organe zu schützen. Denn schließlich ist der Mensch mit seinen Körperflüssigkeiten nicht umsonst ausgestattet, die haben alle eine wichtige Funktion. Allein, dieses gesellschaftlich Verdikt, das gerade über uns schwebt, nicht mehr nach uns selbst riechen zu dürfen und keine Haare auf dem Körper tragen zu dürfen, in Frage zu stellen und endlich eine öffentliche Diskussion in Gang zu setzen, welche Synthetisierung des Menschen hier betrieben wird, lohnt es, dieses Buch zu lesen, auch wenn das mit Übertreibungen in die andere Richtung arbeitet. Wir können und wollen nicht entscheiden, ob es mit weniger Ekel auch gegangen wäre.

 

Die Hauptfigur Helen ist einerseits unerwartet weise und das Gegenteil von wehleidig, andererseits ein armes Schwein. Ein Kind mit kindlichen Bedürfnissen nach heiler Welt, das erst lernen muß, daß man die Welt nicht im eigenen Kopf zusammenbasteln kann und anderen Menschen ihre eigenen Vorstellungen vom Leben und Zusammenleben lassen muß, die man zu respektieren lernen muß, was dem egozentrischem Weltbild eines Kindes nicht gelingt. Von daher finden wir den Schluß nicht ‚rührend’, sondern gemäß einem ‚Lore’-Roman. Aber das erwünschte Zusammenleben der Eltern wäre noch kitschiger gewesen, weshalb wir diesen Schluß als die Beendigung des ‚Nur Kindseins’ ansehen und den Sprung in die Erwachsenenwelt, weshalb wir Helen auf ihrem Wege, sich endlich um ihr eigenes Leben zu kümmern, alles Gute wünschen.

 

Anmerkung:

 

Uns kam beim Lesen immer wieder ein Buch in den Sinn, das uns einst sehr beeindruckte, eigentlich ein anderes Thema hat und doch ähnlich radikal einen Standpunkt zum Thema Frau vertritt. Das ist Christina von Braun, die in „Nicht Ich“ über die Synthetisierung der Frau spricht, die eingetreten ist – wir referieren aus der Erinnerung – als den Frauen Ende des 19. Jahrhunderts ihre Hysterien ausgetrieben wurden. Sie beschreibt diese Hysterie als das letzte Aufbäumen von realen Frauen in einer sich nur noch männlich verstehende Welt, deren ‚Behandlung’ und ‚Ausrottung’ von den Psychoanalytikern und sonstigen Therapeuten eben zur Synthetisierung der Frau geführt habe, wir Frauen also heute alle nur noch synthetische Frauen sind. Sich auszudenken, was diese ehrwürdigen männlichen Psychoanalytiker, zuerst einmal Sigmund Freud, zu Charlotte Roches „Feuchtgebieten“ gesagt hätten, bzw. wie sprachlos sie gewesen wären, das hat was!

 

Christina von Braun, Nicht Ich, Verlag Neue Kritik 1985 Charlotte Roche, Feuchtgebiete, DuMont 2008

 

 

 

Original erschienen am 28.3. 2008 in www.weltexpress.info