jonesbo konigJo Nesbø legt die ganze Welt in IHR KÖNIGREICH aus dem Ullstein Verlag 

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Entweder -oder? Genau! Entweder Sie lesen dieses Buch sehr genau, sehr gründlich, was lange dauert – oder Sie lassen es, was viel Zeit spart. Nachdem ich Mühe hatte, in die Geschichte hineinzukommen, stellte ich mir genau diese Frage – was bin ich froh, daß ich die Lektüre fortsetzte und ab irgendwann sich die Seiten von alleine lasen, immer schneller, bis leider, leider das Ende auf der 586. Seiten kam.

Natürlich kein richtiges Ende, nein, auch kein Anfang einer Serie. Dieses Königreich soll den beiden Brüdern Roy und Carl Opgard in Os, einem kleinen Ort in Nordnorwegen bleiben, für das sie gekämpft und verloren, gemordet und gewonnen haben. Der Prolog, der einen durchaus verstört, stellt sich erst, wenn man den Roman zu Ende gelesen hat, und erneut hineinblickt, als die heimliche Quintessenz der ganzen Handlung heraus, weshalb ich auch die Bezeichnung KRIMINALROMAN falsch finde, denn auch wenn alle Bestandteile eines Krimis vorhanden sind, geht IHR KÖNIGREICH doch über einen herkömmlichen Kriminalroman weit hinaus, ist ein psychologisch, ach was, psychoanalytisch fein gesponnener Roman über Bruderliebe, Bruderzwist, mit derartig hinreißenden Porträts von den Dorfbewohnern, deren jede und jeden man unmittelbar vor Augen hat, so detailliert werden sie äußerlich und innerlich dargestellt. Das ist wirklich ein hervorragender Menschenbeschreiber, dieser Bestsellerautor Jo Nesbø, den ich von der Serie der Harry Hole-Krimis kenne, der ein ähnlicher Kerl wie Roy ist: harte Schale, weicher Kern, vor allem, wenn es um schöne Frauen geht.

Kann schon sein, daß die karge Besiedlung Norwegens mit gerade mal gut 5 Millionen Menschen dazu führt und verführt, karge Menschen, ha, die nach außen kargen Männer (!) mit dem reichen Innenleben, zu den Handlungsträgern zu machen, wie es hier geschieht. Schriftstellerisch geradezu fies, wie uns Nesbø diesen Roy ans Herz legt, dessen familiäre Blessuren wir ja von Beginn an mitbekommen, ein Schutzbedürfnis diesem Menschen gegenüber entwickeln, das so stark ist und hält, als Roy durch den örtlichen Polizisten an den Rand der Wahrheit gedrängt, diesen über den Felsrand mit dem Wagen in die Tiefe stürzen läßt. Wie gesagt: fies. Denn eigentlich sind wir ja gegen Mord. Erst recht an einem Polizisten, als dieser die Wahrheit erspürt. Aber nein, das war ja gar nicht der große Bruder Roy, das läßt uns Nesbo nur lange glauben, das war der kleine Bruder Carl, dem er versprach, ihn immer zu beschützen, was Roy durchhält, auch als er zwischendurch dessen aus Kanada mitgebrachte Frau Shannon liebt, die gegenliebt und ein Kind, einen Jungen von Roy erwartet, aber von Carl brutal ermordet wird. Auch sie landet mit Cadillac im Abgrund, wo Tage vorher schon ein aufdringlicher Verbrecher mit wieder einem Auto aufschlug, nachdem das ganze Unheil vor zwanzig Jahren mit dem Unfall der Eltern anfing, die an dieser Stelle nach einer Kurve in den Abgrund stürzten, ohne Bremsspuren. Sehr spannend, wie sich hier der echte Abgrund mit dem Abgründigen in der Geschichte und ihren Handlungsträgern sprachlich vereint.

Sie kommen nicht mit? Lesen Sie IHR KÖNIGREICH ruhig und stetig wird Ihnen alles auf dem Tablett serviert, aber in verschiedenen Gängen. Da raunt die Vergangenheit, spricht die Gegenwart, verheißt die Zukunft etwas anderes. Wird man schuldlos schuldig oder mit Schuld unschuldig? Die Ebenen fließen für Roy, dem auktorialen Erzähler, dem wir so willig folgen, ineinander, was der Leser nachvollzieht. Denn in diesem Buch hat jeder mit jedem zu tun und jedes mit jedem auch. Je länger man darüber nachdenkt, um so kunstvoller wird die erzählerische Handschrift, die angeblich ganz schlicht daherkommt, in dem wir dem, wie gesagt, kargen Erzähler Roy lauschen. Doch, was war mit den Eltern, die sich innig liebten, der Vater auch seine Söhne, zu sehr auf jeden Fall Carl. Das Geheimnis dieser Familie entpuppt sich nach und nach. Der jüngere Bruder Carl war immer der geliebtere, ja die Mutter sagt dies ihrem Sohn Roy direkt ins Gesicht. Doch der versteht das, es geht ihm ja auch so, daß er den hübschen und cleveren Carl - und was wird eigentlich mit Carl, dem geschändeten kleinen Jungen und Blender nach amerikanischer Art? - sich vorzieht und alles für ihn macht, nachdem er zur rechten Zeit weggesehen hatte, was ihn sein Leben lang verfolgt. Roy macht für Calr buchstäblich alles und als das Schicksal namens Carl Roys eigene Pläne zunichte macht, landet er wieder bei der Bruderliebe. Aus Liebe, aus Ohnmacht, aus Schuld?

Dazwischen liegt dieser Roman und seine Handlung. Carl war nach Amerika gegangen, hatte in Kanada studiert, war zu Reichtum gelangt, kam überraschend zurück ins kleine Dorf, seine schöne sanfte Frau im Schlepptau und führte sich potzdaus auch wirklich wie der reiche Onkel aus Amerika auf, in dem er dem ganzen Dorf verklickert, wie gewinnträchtig das für alle sein wird, wenn man oben auf den Felsen des Opgardschen Familienbesitzes eine dieser SPA-Luxus- Anlagen errichtet. Seine Finanzierungsvorschläge überzeugen dann alle, die Pläne macht seine Frau, die Architektin ist. Daß Carl als gesuchter Immobilienbetrüger aus Kanada in die Heimat geflohen ist, weiß zudem nur sie.

Schon die Geschichte dieses Bauvorhabens, das ja wirklich gebaut wird, und wie die einzelnen Dorfschrate darauf reagieren und agieren, zeigt die Meisterschaft des Autors, so daß sich in diesem einen Roman x-eigene Geschichten verbergen, wer mit wem und weshalb junge Männer für ältere Frauen besonders anziehend sind und umgekehrt auch, einbeschlossen. Es gibt wenig, was in diesem Roman fehlt. Auf jeden Fall nicht die Natur, die vor allem in ihrem Wintercharme mit Eis und Schnee auch dramaturgisch eine Rolle spielt. Der erzählerische Reichtum erschließt sich wirklich nur, wenn man jedes Wort und jeden Menschen ernst nimmt. Dann wird man belohnt.

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Info:
Jo Nesbø,  IHR KÖNIGREICH, Ullstein Verlag 2020