Bildschirmfoto 2020 11 21 um 23.50.17Vor 100 Jahren wurde der Dichter Paul Celan geboren – ein Blick auf sein Leben und Werk durch das Gedicht «Todtnauberg» und Martin Bubers Dialogik

Martin Dreyfus

Basel (Weltexpresso) - Rüdiger Safranski hat seiner Biografie über Martin Heidegger in nahezu «überdeutlicher» Anspielung den Titel «Ein Meister aus Deutschland» gegeben – auch wenn er zur Zeit der Niederschrift dieser Biografie zu Beginn der 1990er-Jahre, noch in Unkenntnis von Heideggers «Schwarzen Heften», Heidegger gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz nehmen zu müssen glaubte.

So wie der Tod in Paul Celans Gedicht «Todesfuge» ein Meister aus Deutschland ist, kann dessen Dichter als ein Meister in der «Vergegnung» bezeichnet werden.

Der Begriff, mehr noch das Verständnis des Begriffes der Vergegnung, entstammt und entspricht dem Denkkosmos von Martin Bubers «dialogischem Prinzip». Buber bezeichnet damit die Unmöglichkeit gewisser zwischenmenschlicher Beziehungen. «Alles wirkliche Leben ist Begegnung», schreibt Martin Buber, und Paul Celan bezieht sich nicht zuletzt in seiner Rede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises 1958 explizit auf Martin Buber: «Die Landschaft aus der ich – auf welchen Umwegen! aber gibt es das denn: Umwege? –, die Landschaft, aus der ich zu Ihnen komme, dürfte den meisten von Ihnen unbekannt sein. Es ist die Landschaft, in der ein nicht unbeträchtlicher Teil jener chassidischen Geschichten zu Hause war, die Martin Buber uns allen auf Deutsch wiedererzählt hat. Es war, wenn ich diese topographische Skizze noch um einiges ergänzen darf, das mir, von sehr weit her, jetzt vor Augen tritt, – es war eine Gegend in der Menschen und Bücher lebten.»


Der Weg zum Anderen

Und Jahre später, anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises 1960 auch eine Zeile seines nach-mals berühmten Gedichtes auf die Begegnung mit Nelly Sachs («Zürich zum Storchen») nur Monate zuvor aufnehmend, schrieb er: «Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber, es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.» In diesem Wort ist Buber zwar gegenwärtig, aber er wird, nach einer nicht eben günstig verlaufenen Begegnung von Celan mit Buber in Paris 1960 wenige Wochen vor der Büchnerpreisrede, nicht mehr namentlich genannt.

Celan war vom Philosophen Martin Heidegger bzw. dessen «Denkkosmos» wie so viele andere gerade jüdische Intellektuelle der Nachkriegszeit ebenso fasziniert wie von Heideggers politischer Haltung und seinem persönlichen Verhalten in der Zeit des «Dritten Reiches» abgestossen. Diese «jüdische» Hinwendung nicht allein zu Heideggers Philosophie, sondern auch zur offensichtlichen Faszination durch dessen Person und Persönlichkeit, scheint noch schwerer verständlich, wenn man Heideggers Biografie vor 1933 betrachtet.


Heidegger, Arendt und Jaspers

Heideggers Beziehung zu Hannah Arendt ist nur eine «jüdische» Komponente – viel ist darüber geschrieben worden, dabei hat Arendt selber, nicht zuletzt in ihrer Korrespondenz mit ihrem Doktorvater Karl Jaspers, gesagt, vielmehr geschrieben, was zu sagen war.

Bedeutender und aufschlussreicher scheint in diesem Zusammenhang Heideggers Haltung gegenüber seinem jüdischen Lehrer, Mentor und Doktorvater Edmund Husserl. Auch darüber ist ausreichend geschrieben und Heidegger mehr als zu Recht dafür geziehen worden. Überraschender ist vielmehr, dass die «jüdischen» Anhänger, Epigonen, Bewunderer Heideggers, dessen nicht anders denn zumindest als schäbig zu bezeichnendes Verhalten Husserl gegenüber auszublenden, nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen scheinen. Dabei ist es Heidegger mit seinem Verhalten nach 1933 erfolgreich gelungen, den 1938 verstorbenen Philosophen Edmund Husserl aus dem Kontext der Erinnerung in einer Weise zu entfernen, dass sich kaum einer von Heideggers jüdischen Anhängern Edmund Husserls bedeutender Rolle als Heideggers Lehrer und Mentor «erinnert». Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet dabei Karl Löwith.

Dessen Bericht «Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933» und dessen inzwischen auch gedruckt vorliegender Briefwechsel mit Martin Heidegger in den Jahren 1919 bis 1937 und erneut ab 1959 bis zu Löwiths Tod 1973 stellen eine erhellende Lektüre dar. Löwith hatte sich 1928 als Heidegger-Schüler in Marburg habilitiert. In Löwiths 1953 erschienener Schrift «Heidegger. Denker in dürftiger Zeit» distanziert sich Löwith, wie bereits in seinem Bericht «Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933», ebenso klar von Martin Heidegger vor und nach 1933, wie er sich zu dem bekennt, was er von seinem Lehrer Heidegger «gelernt» hat. Löwith wird nach Heideggers Berufung nach Marburg an Heideggers Stelle Assistent von Edmund Husserl, nach der Berufung Heideggers auf den Lehrstuhl des 1928 emeritierten Edmund Husserl in Freiburg bis 1933 Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Heideg-ger in Marburg. Dass der Titel von Löwiths Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Heidegger später missbraucht wurde, um aus Heidegger, einem Epigonen nationalsozialistischer «Philosophie», einen Herold des gegen das Regime gerichteten Philosophierens zu machen, dagegen konnte sich der 1973 verstorbene Löwith nicht mehr zur Wehr setzen.

Zwar mag Edmund Husserl vor bzw. bis 1933 nicht als – getaufter – Jude wahrgenommen worden sein, zumal die Religionszugehörigkeit in dieser Zeit kaum mehr eine Rolle spielte, spätestens nach 1933 – nicht zuletzt in der Behandlung, die Martin Heidegger ihm «angedeihen» liess – und nach 1945 war diese Wahrnehmung aber durchaus eine andere.


Husserl und Buber

Bei Celans Be-, vielmehr «Vergegnung» mit Martin Heidegger – Celan begegnet Heidegger explizit als Jude und Überlebender der Schoah – kommt der Existenz des getauften Juden Edmund Husserl keinerlei Bedeutung zu. Auch über diese Be-, vielmehr eben Vergegnung der beiden ist viel geschrieben, mehr noch spekuliert worden, ohne dass – soweit ich sehe – Bubers Begriff der «Vergegnung» dabei aufgenommen worden wäre.

1967 und noch in Celans Todesjahr 1970 kommt es zu persönlichen Begegnungen zwischen Celan und Heidegger. Diese bzw. das Ausbleiben jeder Reaktion Heideggers auf seine Verstrickungen in den Nationalsozalismus und dessen Folgen lassen Celan, zurückhaltend ausgedrückt, enttäuscht zurück. Dieser Enttäuschung sucht er bereits nach der ersten Begegnung in seinem Gedicht «Todtnauberg» mit den Zeilen von der «Hoffnung auf eines Denkenden kommendes Wort» Ausdruck zu verleihen:

Arnika, Augentrost, der
Trunk aus dem Brunnen mit dem
Sternwürfel drauf,
in der
Hütte,
die in das Buch
– wessen Namen nahms auf
vor dem meinen? –,
die in dies Buch
geschriebene Zeile von
einer Hoffnung, heute,
auf eines Denkenden
kommendes
Wort
im Herzen,
Waldwasen, uneingeebnet,
Orchis und Orchis, einzeln,
Krudes, später, im Fahren,
deutlich,
der uns fährt, der Mensch,
der’s mit anhört,
die halb-
beschrittenen Knüppel-
pfade im Hochmoor,
Feuchtes,
viel.

Eine zweite «Vergegnung» zwischen Celan und dem grossen Philosophen seiner Zeit Theodor W. Adorno war für Celan ebenfalls «verstörend». Allerdings liess es Celan in diesem Fall im Gegensatz zur Begegnung mit Heidegger gar nicht erst zu einem vereinbarten Treffen kommen.


Gespräch im Gebirg

Während Gershom Scholem und Helmut Plessner in den Sommerwochen der 1950er- und 1960er-Jahre mehr oder minder regelmässig in Sils Baselgia im Hotel Margna abstiegen, zogen Karl Löwith schon in den 1930er-Jahren und Peter Szondi über Jahre die benachbarte einfachere Pensiun Chasté vor. Hierhin lud Peter Szondi im Sommer 1959 Paul Celan ein, um in einer Begegnung ein Gespräch zwischen Celan und dem in diesen Sommern ebenfalls regelmässig in Sils Maria in der Pensiun Privata weilenden Theodor Adorno zu ermöglichen. Dies misslang allerdings gründlich, Celan wartete die Ankunft Adornos gar nicht erst ab, verliess Sils und schrieb an Stelle der Begegnung «Das Gespräch im Gebirg», einen von Celans wenigen, aber umso bedeutenderen Prosatexten. Auch über diese «Vergegnung» und ihre Folgen ist viel geschrieben und spekuliert worden.

In seiner Rede zur Verleihung des Büchnerpreises 1960 äussert sich Celan auch dazu: «Und vor einem Jahr, in Erinnerung an eine versäumte Begegnung im Engadin, brachte ich eine kleine Geschichte zu Papier, in der ich einen Menschen wie (Georg Büchners, Anm. Red.) Lenz durchs Gebirge gehen liess.» So sehr u. a. gerade Martin Bubers jüdische Mystik wie sein «dialogisches Prinzip» Paul Celan und seine Lyrik beeinflusst und bereichert und in gewisser Weise erst ermöglicht haben, so wenig scheint sich Martin Bubers Begriff und Begrifflichkeit der «Vergegnung» bei Paul Celan niedergeschlagen zu haben, der von dieser Art «Vergegnung» mehrfach betroffen war.

Foto:
Paul Celan (1920–1970).
© tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 20. November 2020