wpo Une leçon clinique à la Salpêtrière 02Der wunderbare, sensible Roman "Die Tanzenden" von Victoria Mas

Hanswerner Kruse

Fulda (Weltexpresso) - „Die Tanzenden“ - der Debütroman von Victoria Mas war in Frankreich ein viel gelobter Bestseller  und erschien vor einiger Zeit auch bei uns. Das Buch über „verrückte Frauen“ entführt seine Leser in die berühmte Pariser Irrenanstalt Salpêtrière im späten 19. Jahrhundert. Es lässt sie am Alltag der Eingesperrten und ihre freudige Vorbereitung für das alljährliche Karnevalsfest in der Anstalt teilnehmen.

Auf dieser karnevalistischen Lustbarkeit in der Salpêtrière drängelt und schubst sich die Pariser Hautevolee, um die „exotischen Tiere besser betrachten zu können.“ Die feinen Leute sind fasziniert von den exzentrischen weiblichen Pierrots, Musketieren und Kolumbinen, Reiterinnen und Zauberrinnen, Troubadouren und Matrosen, Bäuerinnen und Königinnen. Doch zugleich gruseln sie sich vor der Fremdartigkeit der tanzenden Wesen und lauern begierig auf das Schauspiel eines hysterischen Anfalls.

Mit solch einer hysterischen Darbietung beginnt der Roman: der berühmte Nervenarzt Jean-Martin Charcot führt Medizinern, Schriftstellern, Journalisten und Studenten regelmäßig die junge Louise und andere Frauen vor. Unter seiner Hypnose werden ihre Anfälle künstlich erzeugt, „um deren Symptome genauer zu untersuchen.“ Doch die Besucher „haben weniger den Eindruck einer psychischen Störung beizuwohnen als einem verzweifelten erotischen Tanz. Die verrückten Frauen waren nicht mehr angsteinflößend, sie faszinierten.“ In den sogenannten Lehrveranstaltungen stahlen sie den Stars an den Boulevardtheatern die Show. Louise selbst erlebt die demütigenden Aufführungen vor gierigen Männeraugen als ihren „Moment des Ruhms und der Anerkennung“ und fühlt sich als Schauspielerin.

Seit drei Jahren lebt die Sechzehnjährige aus der Unterschicht in der Anstalt, nachdem sie gedemütigt, vergewaltigt und misshandelt wurde. Beaufsichtigt wird sie neben Hunderten anderer, angeblich geisteskranker Frauen von der strengen wissenschaftsgläubigen Oberaufseherin Geneviève. Seitdem die aus der Auvergne nach Paris kam, hütet sie ein Geheimnis, das sich im Laufe der Lektüre erschließt. Auf diese beiden Frauen in der Anstalt stößt die intellektuelle und rebellische Eugénie. Sie wurde von ihrem Vater zwangsweise in die Salpêtrière geschafft, weil sie übersinnliche Erfahrungen macht, die er in seinem Haus nicht duldet. Bis zum „Ball der Verrückten“ überstürzen sich dann die Ereignisse...

Durch Louise, Geneviève und Eugénie wird im Roman beispielhaft und einfühlsam die Lage der Frauen im späten 19. Jahrhundert in Paris (und anderswo) erzählt. Jede Abweichung von Rollenerwartungen und männlich geprägten Normen, jeder weibliche Widerstand, wurde als Geisteskrankheit sanktioniert. Doch die eingesperrten und von ihren Familien vergessenen Frauen quälte man nicht mehr körperlich in der Salpêtrière oder hielt sie in Ketten. Charcot, den es wirklich gab, hatte durchaus den Anspruch die Psychiatrie als medizinische Wissenschaft zu etablieren.

Der Hintergrund des bildhaft erzählten, sehr poetischen Romans ist authentisch und durchsetzt mit Informationen. Doch ohne aufdringliche naseweise Belehrungen hat sich die Autorin behutsam in das Leid vieler und den Widerstand mancher Frauen hineingeschrieben. Sie beschreibt in ihrem großartigen Buch keine vorwurfsvollen Krankengeschichten, sondern schafft Stimmungen und Atmosphären, die empören aber auch Hoffnung machen. Selbst wenn die Figuren und ihre Geschichten „ausgedacht“ sind, verdichten sie - spannend und unterhaltsam zugleich - den damaligen Zeitgeist.

wpo 0 LHospital de la Salpétrière hors la porte St Bernard Pérelle Adam
„...Endlich begab sich ein Teil von Paris zu den Frauen, die von diesem Kostümabend alles erwarteten: einen Blick, ein Lächeln, Zärtlichkeiten oder ein Kompliment, ein Versprechen, Hilfe und Befreiung. Und während sie sich Hoffnungen machten, starrten die fremden Augen die kuriosen Tiere an, die gestörten Frauen, die spastischen Körper. Nachdem man die Verrückten ausgiebig beguckt hatte, sprach man noch wochenlang von ihnen...“

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Grafik:
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  • Stich von L'Hopital de la Salpêtrière um 1660 von Adam Pérelle gestochen.
  • Charcot demonstriert die Hysterie-Patientin Blanche Wittmanim Hörsaal der Salpêtrière. Gemälde von André Brouillet 1887.

Info:
Victoria Mas „Die Tanzenden“, 240 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Piper Verlag, 20 Euro
EAN 978-3-492-07014-0