Matt Haig zeigt in DIE MITTERNACHTSBIBLIOTHEK von Droemer die vielen Leben auf, die eine leben könnte
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Vorausgeschickt sei, daß ich noch nie ein Buch des Briten Haig gelesen habe, der wohl als Bestsellerautor ein wichtiger Lebensberater für viele Leser und Leserinnen ist. Nein, hohe Literatur ist das nicht, die Menschen entwickeln sich nicht im Leben, sondern gewissermaßen künstlich, aber das Buch ist sehr geeignet, sich wie Schachspieler, die falsche Züge zurücknehmen, auch selbst mit dem eigenen Leben zu beschäftigen, was wäre, wenn ich damals anders entschieden hätte.
Nun fällt es den meisten Menschen schwer, ihr Leben gewissermaßen analytisch von außen anzuschauen und die Schachzüge, die ihr Leben in gewisse Bahnen gebracht hat, überhaupt auszumachen, was die Voraussetzung dafür ist, sich im Nachhinein zumindest in Gedanken mit den potentiellen anderen Entscheidungen und somit Lebenswegen zu beschäftigen. Für Nora Seed, 35jährige, die nach einem Philosophiestudium, das nicht nur formal war, sondern dessen Auswirkungen in Form der Philosophenweisheiten in ihr leben, obwohl sie nur eine Kraft im nahegelegenen Laden war, die bis eben noch mit ihrer Katze Voltaire in trauter Zweisamkeit lebte, bricht die Welt endgültig zusammen, als diese überfahren am Bordstein liegt. Das war zusammen mit der gerade erlittenen Entlassung neben allen anderen Lebensenttäuschungen genau der Tropfen...sie wird sich mit Medikamenten umbringen.
Doch wacht sie in einer Bibliothek auf, wo sie von ihrer Schulbibliothekarin Mrs Elm begrüßt wird, die ihr die Besonderheit erklärt: die Mitternachtsbibliothek, die die Uhr auf 00:00 anhält, wenn Nora in eins der vielen Bücher eintaucht, die alle ihr Leben hätte sein können. Warum es so viele sind, entschlüsselt sich schnell, denn das dickste Buch ist das ihrer Reue. Sie bereut, daß sie die Katze raus gelassen hat, sie bereut, daß sie zwei Tage vor der Hochzeit David verlassen hat, sie bereut...ach eigentlich bereut sie fast alles in ihrem Leben.
Autor Haig macht ihr möglich, diese Leben im Nachhinein zu leben. Das fängt mit David an, mit dem sie im ländlichen Oxfordshire eine gehobene Kneipe betreibt. Zwar fühlt sie sich erst mal fremd, aber für die anderen ist sie immer da gewesen. Jedesmal – und so streut der Autor geschickt die jeweiligen Informationen ein – fragt sie die Personen, auf die sie trifft, nach dem gestern aus, nach Vorgängen etc., um sich zurechtzufinden in ihrem neuen, alten Leben – und mit ihr die Leserin. Schon fünf Jahre läuft die Kneipe leidlich erfolgreich und Nora fragt sich, ob das nicht deshalb sein Herzenswunsch war, weil er selber so gerne trinkt und ein Langweiler und ein Schürzenjäger ist er auch! Nein, danke, also findet sie sich schnell wieder in der Mitternachtsbibliothek, wo sie mit Mrs Elm immer beides tut: den nächsten Schachzug und das nächste Leben. Klar, das liegt nach diesen Erfahrungen auf der Hand: lieber im alten Leben aber mit Voltaire, den sie nicht rausläßt.
Und da bringt Haig eine Volte, die wirklich aufzeigt, daß sein Buch ein durchaus nützlicher Ratgeber für Menschen ist. Nora ist wieder zu Hause, alles ist wie vorher, nur Voltaire meldet sich nicht. Sie findet ihn tot. Empört meldet sie sich zurück in der Bibliothek, denn es war ihr anderes versprochen. Aber nun erfährt sie, daß ihre Katze gar nicht überfahren worden ist, aber an einer schon lange angelegten Krankheit gestorben ist. Ihr Voltaire habe durch ihre gute Pflege ihm das Leben sogar verlängert. Das ist zwar genauso traurig, weil Voltaire tot ist, aber sie kann nichts dafür. Ihre Reue, ihn rausgelassen zu haben, war völlig unnötig. Eine wichtige Erkenntnis, nur für die Dinge Reue zu empfinden, die man wirklich selbst verursacht hat.
Auf diese Weise werden alle ihre entscheidenden Lebensstationen durchgespielt: auf Wunsch des Vaters war sie eine olympiareife Jugendschwimmerin, also erreicht sie auch zwei Goldmedaillen und vier Jahre später noch eine aus Silber, sie ist eine bekannte Größe, auf Kongressen und im Fernsehen gerne gesehen. Doch Nora, die ja erst durch Fragekünste herausbekommen muß, wie ihr Leben bisher verlaufen ist, vermißt Wärme. Ihr Bruder Joe, der in allen Leben eine Rolle spielt, ist ihr Manager, kaltherzig und ausbeuterisch. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. So irgendwann in der Mitte erlahmt kurz das Interesse der Leserin. Denn die Verfahren ähneln sich. Aber interessant, was diese Frau im Leben alles vorhatte, denn Gletscherforscherin wollte sie auch werden. Das ist eigentlich das inhaltlich interessanteste Gebiet, wenn sie als solche bei einer Expedition auftaucht, sich wieder durch dumme Fragen auf den Stand bringen muß, Abenteuer mit Bären besteht, doch die Gründe, weshalb sie erneut abwinkt, sind auch erklärbar. Nur ist etwas Entscheidendes geschehen. Sie stand vor dem Tod, hätte ja zufrieden sein sollen, doch auf einmal wollte sie nicht sterben. Nein, überhaupt nicht.
Sie versucht das Weiterleben nach dem Zwischenschritt in der Bibliothek mit etwas Einfacherem. Tier liegen ihr und sie wollte schon immer im Tierheim arbeiten, was sie also tut. Aber bei allen neuen Lebensstationen gab es was, was ihr so zuwider war und ist, daß sie diese Leben nicht leben kann. Und dann kommt etwas, wo die Leserin schluckt, weil sie jetzt in dem eher englischen Understatement von Leichtigkeit mit der schwierige Dinge versprachlicht werden, also wo über Todtrauriges geschrieben wird, daß man lachen muß, kein Selbstmitleid, sondern Ironie und vielleicht Mitleid auf einmal Rosemarie Pilcher ahnt. Im neuen Leben ist sie mit Ash verheiratet, der im richtigen Leben ihre tote Katze fand, den sie schon von der Schule kennt. Er ist Chirurg, sie haben eine Tochter Molly, einen Hund, ein Haus, viele Freunde, genug Geld, alles in allem ein Leben, wie es sich die Pilcherleserinnen – und zuschauerinnen wünschen. Aber Nora kann nichts dagegen tun, daß sie zurückgerufen wird in die Bibliothek. Das macht sich der Autor einfach, auch wenn die Rezensentin keine Seite mehr von diesem Kitsch hätte lesen wollen. Und nun kommt der Count-down, für den mir kein passendes deutsches Wort einfällt: Die Bibliothek brennt, bricht zusammen, alle ihre potentiellen Leben verbrennen, ihr bleiben nur Sekunden das Buch zu finden, das einzige, das kein Feuer fängt, weil es noch ohne Inhalt ist. Sie findet es und schreibt hinein: ich lebe.
Und während ich noch dachte, daß Nora gleich aus ihrem Traum aufwacht, macht es der Autor spannender. Sie wacht aus ihrem Todeskampf auf, schleppt sich zur Tür, zum Nachbarn, der die Rettung ruft. Sie überlebt und wird ihr altes Lebe nun auffrischen, denn erst jetzt weiß sie, sie will leben und nicht tot sein.
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Info:
Matt Haig, Die Mitternachtsbibliothek, Droemer Verlag 2021
ISBN 978 3 426 28256 4