Bildschirmfoto 2021 04 04 um 00.23.01Serie: DIE KRIMIBESTENLISTE im April  2021,  Teil 2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Kaum hatte ich die Angaben zu Merle Krögers Thriller DIE EXPERTEN, Suhrkamp Verlag - im März neu auf der Liste als Nummer 1, was der April fortsetzt - gelesen, war mir klar, daß ich den Roman, auf den sie sich ausdrücklich bezieht, Forsyths AKTE ODESSA endlich lesen muß. Denn damals, als dieser Thriller, was man damals als Roman kennzeichnete, international 1972, aber auch auf den deutschen Bestsellerlisten 1973 ganz oben stand, war mir solche Bestsellerei verdächtig als doch eher populärer Schund. Das war, als ich auch noch nicht John le Carré für mich entdeckte, was dann nach 2000 umfassend geschehen ist.

Doch Forsyth machte mich nicht an. Und bevor ich mit der wirklich aufregenden Geschichte beginne, muß ich klarstellen, daß gegenüber Forsythe le Carré im olympischen Schreibhimmel ruht. Er ist einfach literarisch von anderer Qualität, was die Figurenzeichnung angeht, die Dialoge, einfach alles. Die doch sehr dümmlich vorgetragene Geschlechterfrage ist einem beim Forsythlesen eigentlich peinlich, wie alles, was nicht den direkten Plot angeht. Und der ist einzig, knallhart, politisch durchdringend, das Nachkriegswestdeutschland als Hort der Altnazis, der Ewiggestrigen, die alten Seilschaften, natürlich durch Männer in wichtigen Stellungen repräsentiert, aber mit sich andienenden Frau, die nicht besser sind. Besser soll heißen, die eigene faschistische Vergangenheit zuzugeben, sie aufzuarbeiten, sich neuen Gesellschaftsmodellen, nämlich demokratischen zu öffnen.

Von vorne, wobei man erst einmal berücksichtigen muß, was zum Erscheinungsjahr 1972 in der BRD los war. Das war nach den Studentenunruhen von 1968, denen die Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze vorausgegangen waren. 1972 stand ganz im Zeichen der Ostverträge, mit der Sowjetunion und Polen, um die Willy Brandt und mit ihm die SPD gekämpft hatte, wie auch der Grundlagenvertrag DDR-BRD, was insgesamt Kanzler Brandt den Friedensnobelpreis einbrachte, aber auch das Wiedererstarken von Rechtsradikalen im Marsch auf Bonn, ein überstandenes Mißtrauensvotum im Deutschen Bundestag und die überzeugende Wiederwahl der sozialliberalen Koalition. International ging der Vietnamkrieg weiter, national wurden die Olympischen Spiele in München, die Deutschland als friedliches Land zeigen sollten, durch das Attentat auf israelische Sportler ins Gegenteil verkehrt.

Aber DIE AKTE ODESSA spielt früher, beginnt im Jahr 1963. Da war Adolf Eichmann ein Jahr tot. 1963 war das Jahr, in dem der erste Auschwitzprozeß in Frankfurt begann, aber von Fritz Bauer, dem zuständigen Hessischen Generalstaatsanwalt ist im Buch keine Rede. Um so mehr von Konzentrationslagern und Ghettos, von der unmenschlichen todbringenden Behandlung der Juden, hier vor allem vom ‚Schlächter von Riga‘. Wie der ‚Held‘ des Buches, der Hamburger Reporter Peter Miller, bisher nur im Rotlichtmilieu und bei Gesellschaftsnachrichten erfolgreich, zum erst zögerlichen, dann immer entschlossenerem Verfolger von Eduard Roschmann wird, der offiziell für tot erklärt, Lebenszeichen gab, davon handelt dieser Roman.

Wenn man sich zwischendurch wundert, weshalb dieser doch eher lasche Peter Miller eine solche Energie entwickelt und Bauernschläue dazu, die ihn alle Todesfallen seiner Gegner – die Nazigruppe, die als Odessa firmiert, ist die Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen“, die zwischen Deutschland, Kairo, Madrid und Buenos Aires operiert – umgehen läßt, dann bringt Forsyth am Schluß eine derart schlüssige Lösung, daß man auch die Schläue des Autors bewundert. Durch Zufall hatte Miller die Papiere eines die Nazis überlebenden, gerade aber durch Selbstmord umgekommenen alten ausgemergelten Juden in Hamburg in die Hand bekommen, die die Schandtaten des Roschmann beweisen. Und weil er seinen Peiniger zufällig vor der Hamburger Oper lebendig gesehen hatte, der offiziell tot war, mochte er nicht mehr leben. Aber schrieb alles auf, was Miller jetzt hilft. Denn es bedurfte damals zu einem Prozeß, einer Verurteilung konkreter Beweise des Totschlags oder Mordes, die Beteiligung an der Mordmaschinerie langte nicht. Aber diese Beweise hat Miller nun in den Händen.

Forsyth, der in Westdeutschland für Reuters als Journalist arbeitete und inzwischen bekannt gab, daß er für mehr als 20 Jahre Spion des britischen Auslandsgeheimdienstes M16 war, hat ausgezeichnet recherchiert. Mit Miller gehen wir den Weg, den man beschreiten muß, will man Naziverbrecher finden: die Zentralstelle in Ludwigsburg, das Berlin Document Center und selbst zu Simon Wiesenthal nach Wien, der ihm erstmals von OdeSSA erzählt:wir wiederholen, der Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen. Durchaus Beweise für das Überleben von Roschmann, aber keine Hilfestellung, wer er heute ist. Also muß er einen anderen Weg gehen.

Dieser Thriller handelt nun vom Eintauchen des Journalisten in den braunen Sumpf, weil er so am ehesten den untergetauchten Roschmann mit neuer Identität zu finden hofft. Dabei hilft ihm einerseits eine Gruppe von Holocaustüberlebenden und der israelische Geheimdienst, auch wenn das durchaus zweischneidig wird, ist „seine Ausbildung zum Nazi“ doch ein gefährliches Ding. Er übernimmt die Identität eines gerade verstorbenen Nazis, was lange gut geht. Das alles liest sich auch deshalb so flüssig, weil wir mit Miller in ganz Deutschland unterwegs sind, meist auf den Autobahnen, denn er kann von seinem Jaguar, seinem einzigen Luxus, nicht lassen. Was ein Fehler ist. Denn der fällt auf. Längst haben seine Nachforschungen Unruhe bei ODESSA ausgelöst und ein Killer ist auf seinen Fersen.

Das braucht Autor Forsyth, um es spannender zu machen, was ihm gelingt. München, Nürnberg, Stuttgart, Frankfurt, Taunus, alles grast er ab, aber auf seinem Weg bekommt er ‚Vulkan‘ mit und eine technologisch-technische Aufrüstung, die eine als Transistorenfabrik getarnte Firma, plant, um erneut die Welt am deutschen Wesen ‚genesen‘ zu lassen. Was es ist? Die Entwicklung von Raketen in Ägypten und die Erforschung biologischer und chemischer Kampfstoffe, mit denen Israel ausgelöscht werden soll. Auf jeden Fall sind die besten deutschen Wissenschaftler, die noch übrig sind, nachdem die USA und die UdSSR die meisten in ihre Länder mitgenommen hatten, mit etwas beschäftigt, was Miller herausbekommen wird.

Der Schluß ist sehr realistisch, zwar ist Miller erfolgreich, die Forschungsabteilung für Ägypten wird aufgelöst, aber eben nicht durchschlagend. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff, machen woanders weiter.

Info:
Frederick Forsyth, Die Akte Odessa, Roman, Piper Verlag 1973, Lizensausgabe für Bertelsmann,
Buchnr. 1798‘1780