deaverJeffery Deaver bringt mit Colter Shaw einen coolen neuen Ermittler

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Man glaubt doch immer, angesichts so vieler Kriminalromane, deren Strom nicht abreißt, könne man gar keine neuen Ermittlerfiguren mehr kreieren. Die normalen Polizeibeamten – hier die Kriminalpolizei, die in anderen Ländern je eigene Namen und sogar oft mehrere differierende Organisationen ausmachen, bei uns Kommissare heißen – sind als literarisches Personal hauptsächlich und vielfältig verbreitet, weil sie naturgemäß mit der Aufklärung von Morden, von Entführungen, von Verbrechen zu tun haben. Aber dann gibt es inzwischen eine Menge anderer Ermittler, die aus ganz unterschiedlichen Motiven Verbrechensaufklärung betreiben. Und da ist Jeffery Deaver doch tatsächlich ein ganz neuer Typ eingefallen.

Deaver war vor allem bekannt geworden mit seinem Lincoln Rhyme, wohl 14 Romane, von denen ich viele gelesen und besprochen hatte, auch ein Interview mit ihm darüber geführt hatte. Aber es gibt auch die Kathryn-Dance-Reihe, die er zwischen 2007 und 2016 veröffentlichte und eine Rune-Reihe, ein John-Pellam-Reihe und nun gibt es den ersten Colter-Shaw-Thriller, der diesen sehr eigenen Ermittler uns gleichzeitig als neuer Serienheld vorstellt. Das zeigt schon der Schluß. Gemein, sehr gemein, wie er uns tief in sein eigenes Leben hineinzieht, in den mysteriösen Tod seines Vaters und dessen Geheimnis, vor dessen Aufdeckung er unmittelbar steht – und dann Schluß. Raffiniert, denn man könnte ihm nicht vorhalten, er habe den eigentlichen Fall nicht geklärt, die Familiengeschichte läuft parallel daneben und wird immer wieder virulent. Sicher in den nächsten Colter-Shaw-Krimis auch.

Doch, zum Plot kommen wir auch. Aber hier ist tatsächlich der neue Ermittler erst einmal vorzustellen und zu kommentieren. Er ist weder Kriminaler, noch Privatdetektiv, er ist ‚Belohnungssuchender‘ (reward seeker), wie er von sich selber sagt. Auf der Umschlagrückseite wird er vorgestellt: „Colter Shaw ist hart, er ist kompromisslos und die letzte Rettung für Menschen, denen die Polizei nicht helfen kann – oder will. Er ist ein hervorragender Spurenleser und verdient seinen Lebensunterhalt damit, vermißte Personen aufzuspüren.“ Meist gibt es Lösegeld, was er als Motivation für seine Ermittlerarbeit nach außen vertritt, aber Geld interessiert ihn nicht weiter, auch deshalb weil er aus anderen Quellen genug davon hat.

Er ist unsentimental, aber zeigt Gefühle, er ist übervorsichtig, beurteilt alle potentiellen Handlungen nach den Prozenten, in denen sie für eine Lösung taugen, sehr rational also, kontrolliert, sachlich, derzeit ohne Liebesbeziehung, aber dem Liebe Machen nicht abgeneigt. Endlich keiner, der seine Psychoprobleme ausbreitet, endlich einer, der sich voll in eine Ermittlung schmeißt und die Rettung von Menschen so wichtig nimmt, wie sich selbst. Und doch ein Mensch ist, der sich seinen Problemen stellt, die Aufklärung seiner Familientragödie mit seiner ermittelnden Tätigkeit sehr gut verbindet kann und den Leser mitnimmt.

Doch, es gibt einen Grund, warum wir immer noch über den Auftakt mit Colter Shaw sprechen, denn beim Lesen und Einordnen des neuen Ermittlers kam uns einfach Jack Reacher in den Sinn, der Serienheld von Lee Child in über 20 Romanen, wobei gerade die letzten wieder besonders interessant sind. Denn auch dieser ist äußerst sachlich und voll seiner jeweiligen Aufgabe verpflichtet, ohne persönliche aufdringliche Fisimatenten. Es gibt also keinen Firlefanz, ablenkende Nebengeräusche, sondern eine konsequente Verbrechensaufklärung. Damit kein falscher Eindruck entsteht, Deaver kupfert nicht ab, Colter Shaw ist ein ganz anderer – wobei für mich einfach gilt, daß Jack Reacher, ohne festen Wohnsitz, ohne Ausweis, lange ohne Handy, in den Vereinigten Staaten unterwegs mit wenig Geld, das er per Scheck sich schicken läßt, also ohne Kreditkarte, ohne Koffer, denn erst kauft er neue Kleidung und Unterwäsche, dann wirft er die gebrauchte weg...sowieso eine geniale Erfindung ist. Aber auch Colter Shaw ist einer, der gradlinig ermittelt, der sich reinschmeißt, man bekommt als Leser was für sein Geld, einen sauber geschriebenen vielschichtigen Kriminalroman, der zudem einen tiefen Einblick in amerikanisches Leben gibt. Und man erhält einen aufgeklärten Fall, den man gut nachvollziehen kann.

Und daran erkennt man einfach den routinierten Krimiautor, der mit einem Schlag in ein Wespennest moderner Gesellschaften sticht: die Spieleindustrie. Angst und Bang wird einem, wenn im Verlauf die Zahlen der Spielsüchtigen und die Zeiten, die sie vor ihren Geräten verbringen („Die Videospielindustrie hat letztes Jahr einen Umsatz von 142 Milliarden Dollar erzielt, 15 % mehr als im Vorjahr...Die Branche ist größer als Hollywood...180 Millionen Amerikaner spielen regelmäßig Videospiele. 135 Millionen Amerikaner über 18 spielen regelmäßig.“Seite 151) , neuerdings mit den irren Brillen dazu, die die Wirklichkeit vollends aussperren.

Shaw kommt ins Spiel, als der Vater einer vermißten jungen Frau eine Belohnung auslobt. Doch das ist erst der erste Fall, bei dem ihm gelingt, das Mädchen zu retten. Doch es geht weiter. Und noch weiter. Es ist längst klar geworden, daß die Entführungen ein Videospiel nachstellen, ein älteres, WHISPERING MAN, wo einem Entführten jeweils fünf Gegenstände überlassen werden, mit denen er sich bei geschickter Kombination unter Umständen befreien kann, es sei denn, der Entführer erschießt den Entführten sofort. Wie im zweiten Entführungsfall. Hier stimmt also etwas nicht, aber wie es nicht stimmt, ist höchste Klasse. Ich auf jeden Fall bin auf den nächsten Colter Shaw gespannt...

PS.: Weil ich einst sehr im Oeuvre von Jeffery Deaver zu Hause war, ihn ganz gut kannte, schaute ich im Internet nach seinen letzten Jahren und fand bei Google: „Für den kurz vor den Olympischen Spielen 1936 in Berlin spielenden Roman Garden of Beasts hat sich bisher kein deutscher Verlag gefunden. Der Titel des Buches bezieht sich auf den Berliner Tiergarten, in dem eine Schlüsselszene spielt.“ Das ist ja allerhand. Und man kann es auch nicht verstehen. Zusätzlich sind derzeit die Dreißiger Jahre doch en vogue in Film und Fernsehen. Auf jeden Fall werde ich bei Blanvalet, die seit vielen vielen Jahren Deaver verlegen, nachfragen.

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Info:
Jeffery Deaver, Der Todesspieler. Ein Colter-Shaw-Thriller, blanvalet, 2020
ISBN 978-3-7645-0749-7