thomas kunstSerie: Der Deutsche Buchpreis  2021, hier die Auswahl der Zwanzig, Teil 10

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Endlich! Endlich sehe ich Land, obwohl es ja eher um Wasser geht, um den Teich inmitten von Zandschow, wo Sansibar und Südamerika und der Indische Ozean in der Nähe liegen und man potzblitz sofort in Afrika oder sonstwo ist. Endlich keine Geschichte vom Erwachsenwerden, vom Abnabeln, von Migranten- und Beziehungsproblemen. Endlich ein richtig schöner ‚verrückter‘ Roman, was ja nur heißt, daß hier etwas ‚verrückt‘ wird, nämlich der Ablauf eines angeblich normalen Lebens,

was Bengt Claasen auf folgende Weise in Gang setzt,: „Er nimmt das Hundehalsband aus der Kommode und legt es auf das abgerundete Armaturenbrett seines Wagens...An der Stelle, an der es herunterfällt, will er anhalten und ein neues Leben beginnen.“

Und er will nicht nur, er tut es auch. Natürlich muß er langsam fahren, damit das Halsband nicht versehentlich herunterrutscht. Aber beim Langsamfahren bekommt der Fahrer sehr viel mehr von der Umgebung mit und wir dadurch beim Lesen auch. Und dann muß er noch langsamer werden, Wildwechsel, ein Problem, das uns noch öfter beschäftigen wird, denn diese Tiere sind nicht nur potentiell auf der Straße, sondern das Reh oder sogar die Rehe gibt es in der eigenen Familie. Doch da sind wir der Zeit schon voraus. Erst einmal sind wir sprachlos, was dieser Bengt, den wir doch lieber, da er bei aller Spinnerei, doch auch etwas Distanziertes, etwas Fremdes hat, anbiedernd ist er nie, den wir also lieber Claasen nennen, was dieser Claasen also alles anstellt.

Doch, doch, er hat schon etwas Depressives, sein Leben ändern will man ja eigentlich nur dann, wenn man sich in ihm nicht wohl fühlt, und nicht nur Weißäuglein, die Hündin ist tot, sondern auch Silje ist Vergangenheit. Silje? „An der Stelle, an der es herunterfällt, den Anschein macht, herunterzufallen, will er anhalten und ein neues Leben beginnen. Ohne Musik. Ohne Selbstmitleid. Ohne Ewigkeit und Verantwortung...“ Ah, jetzt wissen wir schon mehr, nämlich daß seine Gedanken sich leicht und ziemlich oft im Kreise drehen und daß er sich oft, sehr oft sogar und dann doch zu oft wiederholt. Daß dabei der Tod der Hündin und die Gedanken an ihren Verfall, sie kippte oft einfach um: „eine Fingerspitze mit Traubenzucker unter die Zunge. Und sie war wieder die Alte.“, eine ewige Leier wird, das sehen wir ihm nach, empfindet doch jeder derart im Selbstgespräch, der je ein Tier, mit dem er lebte, an den Tod verlor. Aber die anderen Wiederholungen, von denen sollten wir erst später lamentieren, wenn der Ort - dieses Zandschow, wo also das Halsband herunterglitt und er anhielt, um sein Leben zu ändern - erreicht und beschrieben ist.

Sind wir in Deutschland? Man mag‘s nicht glauben und dann wieder doch, so geregelt geht das Ungeregelte seinen Gang. Und daß in Norddeutschland die Sehnsucht nach dem wilden, heißen Süden größer ist als sonstwo, scheint mir wahrscheinlich, weshalb ich sowohl die zwanzig Plastikschwäne auf dem Teich, die Inseln, die vorwiegend Sansibar heißen wie auch, daß es sich beim Gewässer in Zandschow um den Feuerlöschteich mit einer Mittelinsel handelt, Palmen inklusive, der einem aber zum Indischen Ozean wird, schon fast bieder Realismus nenne; auf jeden Fall handelt es sich nicht um den lateinamerikanischen Magischen Realismus a la Marquez, obwohl in diesem norddeutschen Realismus schon viel Magisches steckt. Nur ganz anders oder um es mit des Autors Worten zu sagen: „Aber in umgekehrter Reihenfolge.“

Das kann man gut am Getränke-Wolf festmachen. Der Besitzer Wolf hat den Laden von seinen Eltern geerbt. Da gibt es die Sonnenbank, UV-Licht und ‚rotes Beauty Light‘ per Knopfdruck zur Wunschbräune. „Über dreihundert ausgesuchte Farben und Lichtanimationen im Innenraum. Sansibar, Apfelblüten. Afrikanische Biere in den Regalen. DjuDju Banane. Mongozo Palmnut. Windhoek Lager. Wolf vertickt die Getränke zu Schleuderpreisen. Seine Großeltern hatten ihren Kindern viel Geld hinterlassen. Um aus Zandschow rauszukommen, blieben sie in Zandschow ...“ Die selbst entworfenen Etiketten auf den Flaschen bringen die Leute wie von selbst nach Sansibar und sonst wohin. Und Wolf gute Einnahmen. Wolf veranstaltet zudem im September an der Küste des Feuerlöschteichs die Francis-Drake-Festspiele, wo gelost wird, wer im Stück Die Blockade von Cartagena Drake himself, wer Engländer, wer Spanier und wer Sklave sein soll, wobei die Rolle der Sklaven die begehrteste ist!

Ein Kapitel weiter fährt Claasen, er muß es sein, spricht aber auf einmal von Ich, der auktoriale Erzähler (eigentlich ein personaler) mausert sich also zu einem Icherzähler, der am 1. Juli mit dem Taxi nach Galerazamba gefahren ist und nun in La Estrella dicht am Meer wohnt. „Mein Taxi ist weiß. Der Starttarif liegt bei fünftausend Peso. Man muß ja sehen, wo man bleibt.“ Daraus werden schnell siebentausend Peso, später – woanders – sogar Hunderttausende, aber immer mit der Rechtfertigungsformel: „Man muß ja sehen, wo man bleibt.“

Aber er kann uns nicht foppen, weder als Erzähler noch Icherzähler. Dieser Bengt Claasen bringt an den Strand des Feuerlöschteichs von Zandschow, der dann auch mal zur Nakupenda Beach wird, seine ganze Familie und seine Tiere mit, zumindest in Gedanken, Gefühlen und inneren Gesprächen mit ihnen. Die Schwester, die Kleine, für die er Sorge trägt, die Mutter, an den Vater denkt er auch, erst recht an das eigene Kind, war das in Leipzig oder wo? Das verschwimmt, ist auch nicht wichtig, aber wichtig bleibt, daß wir in unserem Inneren unsere Vergangenheit mitnehmen. Und wie!

Das mit Freude und Genuß angefangene Buch mäanderte mir dann zu viel, der Wiederholungen sprachlicher Wendungen, die mir erst gefielen, wurden es dann zu vieler, aber vor Schluß zieht Bengt Claasen noch mal an, da war ich wieder voll dabei und bin froh, daß so viele DDR-Bezüge vorkommen, deshalb froh, weil ich gerade nicht dort groß geworden bin oder dort gewohnt habe. Denn unfroh macht mich, daß in den allermeisten heutigen deutschen Romane wie selbstverständlich auf westdeutsche Vergangenheit zurückgeblickt wird, als wäre sie einzige deutsche Nachkriegsvergangenheit.

Das ist kein Roman,
dessen Handlung oder Atmosphäre man mit Worten wiedergeben könnte. Vielleicht könnte das die Musik, die hier ausgespart wurde, die aber immer mitschwingt und mitsingt und von der der Autor im Anhang aufzählt: „Diese Platten waren beim Schreiben für mich unabdingbar...“. Hier im Anhang sind auch Personennamen und Fernsehsendungen erklärt, wobei schon schlimm ist, daß Carlos Valderama, Kevin Keegan, Pierre Littbarski kein allgemeines Bildungsgut sind, allesamt Fußballspieler, wie jedes Kind wissen müßte. Aber bei den Radrennfahrern tat ich mich dann doch schwer und griff gerne auf die Anmerkungen zurück.

Das ist aber ein Roman,
der auf subtile Weise auch davon kündet, wie sehr wir familiäre Zustände, einschließlich der Personen, in uns weitertragen, mit ihnen weiterleben, uns mit ihnen auseinandersetzen, streiten, sie lieben, hassen und sie beschützen. Meine Güte, schon wieder nachgetragene Liebe, wo ich doch froh war, mal eine verrückte Geschichte und kein Beziehungsdrama oder die endlose Geschichten vom Großwerden zu lesen. Ja, schon, auch hier prägt die Vergangenheit das Leben, aber dankenswerterweise in ganz anderen Form! Und anderem Format.

Foto:
Cover

Info:
Thomas Kunst, Zandschower Klinken, Suhrkamp, Februar 2021
ISBN 978 3 518 42992 1