Mary May Simon
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Ihre Exzellenz Mary May Simon, die Generalgouverneurin von Kanada hielt die Eröffnungsrede zum diesjährigen Länderschwerpunkt Kanada, das heute immer Gastland heißt.
Hello. Bonjour. Guten Tag.
Ich freue mich sehr, hier persönlich anwesend zu sein, um den offiziellen Startschuss für die Teilnahme Kanadas als Ehrengast der diesjährigen Frankfurter Buchmesse zu geben. Le monde a connu deux années difficiles. Die letzten beiden Jahre waren schwierig, für jeden, ganz gleich wo.
Wir erleben eine außergewöhnliche Zeit in der Weltgeschichte. Die erste globale Pandemie in über 100 Jahren. Ihr Einfluss auf uns alle und auf die Geschichten, die wir uns zu erzählen haben, wird bleiben. Kunst, Kultur und Literatur haben uns geholfen, diese herausfordernde Zeit zu überstehen. Viele Menschen haben im Verlauf dieser Pandemie eine neue Welt der Worte entdeckt und darin Trost und Verbundenheit gefunden.
Ich möchte den Organisatoren der Frankfurter Buchmesse und den zukünftig vorgesehenen Ehrengastländern – Spanien, Slowenien und Italien – für ihre Geduld, ihr Verständnis und ihr partnerschaftliches Miteinander danken, mit dem sie dazu beitragen, dass Kanada der Welt seine Geschichten unter
bestmöglichen Bedingungen präsentieren kann.
Im vergangenen Jahr haben wir Ihnen unser Motto für das Ehrengastjahr Kanadas vorgestellt: Singular Plurality, einzigartige Vielfalt. Das Motto spiegelt unsere Kultur der Diversität, in der wir alle einzigartig und doch durch unsere gemeinsamen Werte und unsere Unterschiede verbunden sind. Wir sind eine multikulturelle Nation. Das ist nicht nur eine bloße Tatsache, es ist Teil unserer Identität. Lebendig wird dieser Geist in der kanadischen Literatur mit ihrem Reichtum an neuen Stimmen und einzigartigen Perspektiven. Sie alle sind Teil der vielfältigen Hintergründe, die Kanada ausmachen.
Das meint unsere „Singular Plurality“, die wir gerne mit Ihnen und der übrigen Welt teilen möchten. Vom Atlantik zum Pazifik und zum Nordpolarmeer haben
kanadische Autoren kreative und tiefgründige Geschichten zu erzählen, von denen jede einzelne auf einer Vielzahl von unverwechselbaren Einflüssen, Perspektiven und Erfahrungen basiert. Kanada ist ein riesiges Land, dessen Geographie so vielfältig ist wie seine Menschen. Unsere Geschichten zeichnen die Karte des Landes, das wir lieben – von den windgepeitschten Küsten des atlantischen Kanadas über die Pinienwälder rund um die Großen Seen und den hohen Himmel über den endlosen Prärien, über die Gipfel und Gletscher der Rocky Mountains bis hin zur arktischen Tundra unter den majestätischen Nordlichtern.
„Singular Plurality“ beschreibt eindrücklich, dass die Geschichte Kanadas nicht nur eine einzige Geschichte ist. Sie besteht aus den Geschichten aller Kanadier. Nous avons tous une histoire à raconter. Wir alle haben eine Geschichte zu erzählen.
Meine eigene Geschichte begann sehr weit weg von hier, in einem Teil des arktischen Québec, der heute als Nunavik bekannt ist. Ich war ein Kind zweier Welten: der Welt der Inuit und der anderen, südlichen Welt. Meine Kindheit war vom traditionellen Lebensstil der Inuit geprägt – wir reisten per Hundeschlitten oder Boot und ich lernte, wie man jagt, fischt, Nahrung sammelt und von der Natur lebt. Meine Eltern und meine Großmutter brachten mir und meinen
Geschwistern alles bei, was ich über die Kultur meiner Vorfahren wissen musste.
Und abends? Meine Inuit-Großmutter erzählte uns gerne Sagen und Legenden. Meine Lieblingsgeschichte war immer die von Sedna. Von diesem
Mythos gibt es viele unterschiedliche Versionen, von denen meine Großmutter uns die weniger schaurige erzählte. Die Legende berichtet, wie Sedna die Meeresgöttin der Inuit wurde und wie die verschiedenen Arten von Robben, Walrossen und anderen Meeressäugetieren geboren wurden. Es handelt
sich um einen Schöpfungsmythos.
Ich glaube, dass all unsere Geschichten Schöpfungsmythen sind. Wir erschaffen uns selbst durch unsere Geschichten. Durch meine eigene Geschichte habe ich gelernt, mich in zwei sehr verschiedenen Welten zu bewegen. Ich habe gelernt, meine Stimme zu finden und sie zu einer starken Stimme für andere zu
entwickeln, die noch Mühe haben, gehört zu werden. Ich habe gelernt, dass unsere Geschichten uns verbinden und stärken. Mündlich überlieferte Geschichten wie die Sagen und Legenden, die meine Großmutter meinen Geschwistern und mir erzählte, sind ein wichtiger Teil der Kultur der Inuit oder anderer indigener Völker. Ähnliche Überlieferungen finden sich in vielen Ländern und Sprachen.
Jede Kultur hat ihre eigenen Geschichten und ihre eigene Geschichte, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Im Norden Kanadas sind diese mündlichen Überlieferungen das, was eine Verbindung zwischen den Menschen, zum Land und zu seinen Gewässern schafft. In unserer Jugend hörten wir oft von Arktis-Expeditionen. Überlebt haben diejenigen, die die Inuit um Hilfe baten.
Für mich ist dies ein Paradebeispiel dafür, wie wichtig es ist, unsere Geschichten miteinander zu teilen. Wir müssen unsere Geschichten und Geschichtenerzähler fördern und schützen. In der Welt und in unseren Herzen müssen wir Platz schaffen für das Gedeihen aller Geschichten. Im Norden und auch in allen anderen Teilen Kanadas erheben indigene Völker wieder Anspruch auf ihr Land und gewinnen ihre Identität zurück. Sie erwecken ihre Sprachen zu neuem Leben und teilen ihre Legenden, ihre Geschichte und ihr Wissen über das Land, das sie seit Jahrtausenden Heimat nennen.
Wir setzen uns in Kanada auch dafür ein, ein dunkles und schmerzhaftes Kapitel unserer Geschichte – die Wahrheit über unsere Vergangenheit – anzuerkennen und zu verarbeiten. Viele Tausend indigene Mitmenschen sind gezeichnet vom System der kanadischen Residential Schools oder verloren darin
ihr Leben. Für diese Wunden gibt es kein einfaches Heilmittel. Es braucht Zeit, Vertrauen, Mitgefühl, Respekt und Verständnis. Versöhnung ist eine Lebenseinstellung. Sie bedeutet, einander kennenzulernen und die Welt mit den Augen eines anderen zu sehen. Versöhnung bedeutet, einander unsere Geschichten zu erzählen, die guten und die schlechten, über unsere Mythen und unsere Vergangenheit zu berichten, unsere Wahrheiten, unseren
Schmerz und unsere Hoffnungen miteinander zu teilen.
Dafür müssen wir uns jeden einzelnen Tag einsetzen. Ich habe Geschichten und Romane von vielen indigenen Autorinnen und Autoren gelesen. Das sind nicht immer leichte Geschichten, aber es sind wichtige Geschichten. Geschichten von Stolz und Stärke. Geschichten, die uns alle der Heilung, dem
Verständnis und der Versöhnung näher bringen. Ich möchte jeden ermutigen, mit der Vielzahl talentierter indigener Geschichtenerzähler in Kontakt zu treten, die an der Frankfurter Buchmesse teilnehmen.
Auch lade ich Sie ein, alles, was Kanada als Ehrengast in English, en français und sogar auf Deutsch zu bieten hat, in vollem Umfang zu erkunden und zu genießen. Es erwartet Sie ein vielfältiges Panorama kultureller Perspektiven. Nous sommes ravis que le monde vienne nous rencontrer au pavilion du Canada.
Wir sind auch stolz darauf, das erste Ehrengastland auf der Frankfurter Buchmesse zu sein, das einen virtuellen Pavillon vorstellt, der unsere Präsenz-Aktivitäten durch ein einzigartiges, interaktives Online-Programm ergänzen wird. Zusammen werden unser physischer und unser virtueller Pavillon
Kanadas Autoren, Illustratoren und andere Künstler in einer innovativen, immersiven Erfahrungswelt präsentieren, die die Besucher vor COVID schützt und die reiche Vielfalt kanadischer Literatur und Kultur ins Rampenlicht stellt.
Wir freuen uns darauf, Ihnen unsere Geschichten zu erzählen, und sind dankbar für diese Möglichkeit, an Ihren Geschichten teilzuhaben.
Weil unsere Geschichten wichtig sind. Es sind unsere Geschichten, die uns zu dem machen, was wir sind, und die unsere Welt ausmachen. Das letzte Wort würde ich gern einem unserer Geschichtenerzähler überlassen, dem verstorbenen Richard Wagamese, Ojibwe-Autor und Journalist der Wabaseemoong
Independent Nations in Nordwest-Ontario, der sinngemäß schrieb:
Alles, was wir sind, ist Geschichte... Es ist das, womit wir ankommen. Das ist alles, was wir zurücklassen.... Worauf es deshalb ankommt, ist, die bestmögliche Geschichte zu erschaffen, die wir erzählen können, solange wir hier sind; du, ich, wir, zusammen. Wenn wir das können und uns die Zeit nehmen,
diese Geschichten miteinander zu teilen, wachsen wir innerlich, sehen einander und erkennen unsere Verwandtschaft – wir ändern die Welt, Geschichte für Geschichte...
Thank you. Merci. Meegwetch. Nakurmik. Danke.
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©hessenschau.de
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