Jürgen Wertheimer, Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen, Penguin Verlag, Teil 1
Elvira Grözinger
Berlin (Weltexpresso) - Um es vorweg zu sagen, in dem Buch findet sich keine systematische Geschichte des Kontinents, auch keine Kulturgeschichte im herkömmlichen Sinn, nein, es ist vielmehr ein Mosaik aus Mythologien, Literaturen, Kunstwerken, ja eine Sammlung von Episoden, bunt gewürfelt, welche die Lieblingsthemen des Autors in einer Art Spaziergang des Flaneurs, manchmal im Parforceritt, durch die verwinkelten Gassen europäischer Städte beziehungsweise Schlachtfelder dem Leser vorführt. Sprachlich oft gewagt, mit dem Sprech von heute gewürzt und im eigenwilligen Stil erzählt – darunter steile Thesen und flotte Formulierungen, zuweilen gar an Manierismus grenzend aber meist spannend erzählt – macht der Stoff manchmal den Eindruck eines Vorlesungsmanuskripts.
Denn der Autor, Jürgen Edmund Wertheimer, Jahrgang 1947, ist seit 2015 emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik der Universität Tübingen. Sein reicher Fundus an Wissen findet hier seinen Ausdruck. Wertheimer studierte in München, Siena sowie Rom und unterrichtete ein Jahr lang in Metz und war Gastprofessor an der Université Paris 8. In dieses Buch sind seine in den romanischen Ländern gesammelten Erfahrungen eingeflossen und er verwendet die Literatur als Folie, auf die er die Geschichte der vor allem westlichen Kulturen Europas projiziert. Jedenfalls ist die Lektüre des Buches weitgehend amüsant, auch lehrreich, da der Autor belesen ist, und sie bietet oft Überraschendes. Für ihn ist Europa ein sehr labiles Gebilde, ein Kunstprodukt und Artefakt und deswegen ist seine Herangehensweise eine andere als erwartet. Gleich am Anfang steht im Vorwort: „Vereinigte Staaten von Europa – ein Widerspruch in sich selbst. Europa der Vaterländer – eine Vision aus der Mottenkiste. Das Band gemeinsamer europäischer Werte - pure Einbildung.“ (S. 9) Diesen Kontinent findet der Autor „verwirrend“ und er nähert sich ihm eben wie eingangs beschrieb nicht über Urkunden und Archivmaterialien, sondern über literarische Zeugnisse und ihre Rezeption. Dem Verfasser ist bewusst, dass im Zeitraffer eines Gangs über Jahrhunderte hier notgedrungen ein Fragment, Patchwork entstanden ist, allerdings ein lesbares und lehrreiches. Vieles wird dem humanistisch gebildeten Leser nicht unbekannt sein, die gemeinsame Europa-Reise auch oft Déja-vus bieten. Zudem vertiefen die Exkurse im Text durch choarartige Kommentierung die vom Autor im Haupttext vorgebrachten Thesen.
Das Buch ist in sechs Hauptkapitel unterteilt: Gründungsmythen; Metamorphosen; „Eine Neuvermessung der Welt“; Das Projekt „Aufklärung“; Das Jahrhundert der Widersprüche; Selbstmord und Weiterleben. Man kann nicht umhin, an den Dekonstruktivismus zu denken, wenn Wertheimer erklärt: „Dieses Buch unternimmt den Versuch, sich diesem verwirrenden Kontinent zu nähern und ihn in all seiner Widersprüchlichkeit zu erkunden [...] Die Vorstellung eines in sich geschlossenen Ganzen ist pure Illusion. Wir sollten uns mit dem Europa, wie es ist, anfreunden und das Beste daraus zu machen versuchen.“ Nach der Lektüre des Buches lautet der Befund: Der Versuch ist gelungen aber der Patient ist nicht gesund, so die Diagnose des Autors: „Denn im Weltmaßstab ist Europa genau das: Eine relativ edle, sehr in die Jahre gekommene kulturelle Ruine, die ihre Bewohner noch immer dazu bringt, von alten Zeiten zu träumen, statt sich zu fragen, was ihre wirklichen Eigen-Arten sind.“ Europas Bewohner kämpfen gegen das Gefühl einer drohenden Krise an und der Autor, nun in der Rolle eines Arztes, begibt sich auf die Suche nach dem Schlüssel: Gibt es überhaupt ein Europa? Denn seine Konturen änderten sich ständig, und „im Grunde war und ist Europa eine einzige auf Dauer gestellte Transitzone. Ein kulturelles Treibsandgebiet ohne Leitkultur und alles andere als Normierungskartell.“ Wertheimers Allheilmittel, um das „Chamäleonartige“ im steten Wandel begriffenen Körpers als heiles Ganzes zu erhalten, heißt „Kommunikation“. Die kommunikativen Techniken ermöglichen nämlich, mit den disparaten Werten umzugehen. Und wie könnte ein Literaturwissenschaftler eben diesen Schlüssel woanders suchen als im Schrifttum, der humanistischen, aufklärerischen Tradition und vor allem in der Literatur, „dem sprachgewordenen Fingerabdruck des Denkens und Empfindens ganzer Kollektive“, besonders im Roman und im Drama.
Den Gründungsmythos kennen alle, die vor der Wokeness-Ära geboren wurden und lesen lernten. Die griechische Mythologie erzählt wie Zeus, der griechische Macho-Hauptgott, der sich gern in Tiergestalt mit Menschenfrauen paarte, ob als Schwan mit der Leda oder eben als Stier mit der von ihm nach Kreta entführten Königstochter Europa. Mit ihr hatte er drei Söhne, der Beginn einer neuen Dynastie. Die altägyptisch-orientalische Zeit war nun vorbei, die neue, mediterrane Kultur nahm in den Jahren zwischen 2500 und 1500 v.u.Z. ihren Platz ein. Sie musste sich jedoch auch vor allem gegen das expansive Perserreich wehren. Der Kampf des Ostens gegen den Westen ist eine heute wieder spürbare Konstante in der europäischen Geschichte. Und Wertheimer operiert mit antiker Poesie als wäre sie ein geschichtliches Dokument – Homers Ilias (730/720 v.u.Z.), das „zum Markstein europäischen Selbstverständnisses werden sollte“ und das Epos ist für uns sogar noch aktuell: der Trojanische Krieg war im Gange, als im Lager der griechischen Belagerer die Pest ausbrach und – so der Autor – „man kann die Ilias auch als eine Art Laborbericht aus der Werkstatt der DER BEGINNENDEN Demokratisierung lesen.“ (S. 39)
Die griechische Tragödie war der Beginn der Moderne, eine Befreiung aus den Zwängen archaischer Rituale und vom Ausgeliefertsein an die Moira, das Fatum – das Schicksalhafte, welches die Mythologie bestimmte. Sophokles (497/6-406/5 v.u.Z.) hat in seiner Antigone (442 v.u.Z.) den Kampf gegen ein in ihren Augen korruptes Herrschaftssystem geführt. Antigone wurde bezwungen, doch bis heute wird sie als „Ikone des individuellen Widerstands“, auch und gerade in den totalitären Systemen, auf Weltbühnen aufgeführt. In Euripides‘ (480-406 v.u.Z.) Medea wiederum sieht Wertheimer bereits den clash of civilizations (S. 51), wobei hier die latente Bedrohung der jungen Polis durch die Perser eine Rolle spielt. Die griechische Demokratie in der attischen Polis damaliger Zeit trug - nach Wertheimer - mit ihren Denkverboten somit bereits die Züge der Inquisition und des Stalinismus. Sie war selbst durch Spannungen, Rivalitäten und Streitereien gefährdet aber setzte sich dennoch erfolgreich sowohl gegen äußere Feinde - Trojaner und Perser – als auch innere Konkurrenten wie Sparta durch. Ihre zivilisatorischen Errungenschaften wie Theater, Gericht und Agora haben jedoch die Entwicklung des Kontinents nachhaltig geprägt.
Von Odysseus zum „Jahwe“ des „Alten Testaments“ (nicht der Gott der Hebräischen Bibel, wie es Juden sagen würden) führt den Autor zu den Wurzeln Europas, wobei er nun die Bibel wie zuvor die griechische Mythologie als Quelle benutzt, denn „Texte schaffen Realitäten“. Die Geschichte Roms wird sehr kurz skizziert, gefolgt von der skizzierten Entstehung des Islam und dem Fall von Byzanz. „In den folgenden Jahrhunderten wird Europa mehrfach seine Kontur wechseln“ – und, da gerade brennend aktuell nach dem Rückzug aus Afghanistan, hat der Autor Recht, wenn er sagt: „Um bildlich zu sprechen: Dieses Europa wird nicht am Hindukusch verteidigt – es sollte vielmehr selbst den Hindukusch zu einem Teil Europas umdefinieren“ (S. 107) Da sich in der Zwischenzeit der Westen und Europa vom Hindukusch zurückgezogen haben und nun mit Flüchtlingen von dort konfrontiert werden, beweist wie schwierig es ist, mit dem Phänomen „Europa“ und seinen mäandernden Konturen zu Recht zu kommen.
Die Germanen werden anhand des Nibelungenlieds charakterisiert, wobei der Autor zu Richard Wagner abschweift. Den sensualistischen Katholizismus Europas des 14. Jahrhunderts entdeckt Wertheimer in Umberto Ecos Der Name der Rose (1980), ein Buch mit dem „Clash of Emotions“ (S. 155). Es war eine „Zeit der Kathedralen“ aber auch der Kreuzzüge (von 1095 bis 1444) und der Pogrome gegen die Juden, die der Autor „christlicher Dschihad“ (S.173) nennt. Durch die kritische Auseinandersetzung mit dem religiösen Fanatismus der Christen dekonstruiert der Autor „Die Legende vom christlichen Abendland“: „Es gibt keinen zweiten Kontinent, auf dem fanatischer Glaube, tiefe Frömmigkeit und Spiritualismus auf der einen und konsequenter Säkularismus, Agnostizismus und Atheismus auf der anderen Seite so unmittelbar aufeinandertreffen.“ Es ist ein „Kampf der Kulturen“. Und „Im Zeitraffer der Jahrhunderte gewinnt man ohnehin den Eindruck, Religionen wären in Europa eher ein Motor permanenter Unruhe und Beunruhigung anstatt Zonen der Kontinuität und Geborgenheit“. (S. 181)
Jedes Jahrhundert brachte revolutionäre Durchbrüche, wie Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks (1450), die Forschungen des genialen Malers Leonardo da Vinci, die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus (1492) aber auch im gleichen Jahr das Ende der islamischen Herrschaft in al-Andalus (seit 711), die Reconquista und die Vertreibung der Juden aus Spanien. In Deutschland kam der Bruch mit der Katholischen Kirche, die Reformation, als Martin Luther seine 95 Thesen 1517 an die Kirchentür von Wittenberg nagelte. Es kam die Zeit von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den „Protestanten“ wie den Lutheranern, Hugenotten, Calvinisten, Hussiten usw. Die gedanklichen Sprünge des Autors in dem Parforceritt durch Europas Kulturen streifen die Renaissance, das Zeitalter des Humanismus findet er zweigesichtig „Utopie und Schafott“ (S. 201), wobei die Utopie mit Thomas Morus‘ Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia (1516) sowie Thomas Hobbes‘ Leviathan (1651) ihre bekanntesten Schilderungen fand. Doch dann folgten „Glaubensspaltungen und -kriege, die Inquisition, Hexenverbrennungen, Schismen, Folter, Autodafés“ (S. 204), die das Signum der europäischen Neuzeit wurden. Doch zugleich entstanden wiederum Meisterwerke europäischer Kunst und Leonardo da Vincis Mona Lisa sollte „zu einer Art Ikone abendländischen Kultur werden“ (S. 213).
Im 16. wie im 17. Jh. erlebte z. B. Spanien eine bis dahin ungekannte literarische und künstlerische Blütezeit, in England brachte die Elizabethanische Ära ebensolche. Die astronomischen Entdeckungen angefangen von Kopernikus im 15. Jh. setzten sich im nächsten Jahrhundert mit Galileo Galilei, Kepler und Giordano Bruno fort. Sie gefielen den Kirchenoberen als konträr zu ihren Lehren nicht und so musste Galilei 1633 vor der Inquisition seinen angeblich ketzerischen Lehren abschwören, was ihm das Leben rettete. Zuvor musste jedoch Bruno 1600 seine Arbeit über die Unendlichkeit des Raums mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen auf dem römischen Campo di Fiori büßen. Das waren also die im Europa der Renaissance so widersprüchlichen Phänomene. René Descartes (1596-1650) hat im 17. Jahrhundert seine eigene Antwort darauf gegeben: „Cogito ergo sum“, das eigene Urteil als das alleinige Fundament des neuen, freien Denkens, der zusammen mit Blaise Pascals Pensées (1670) die Revolte und damit zugleich das Zeitalter der Aufklärung einläutete, während die französischen Barock-Klassiker wie Corneille, Racine, Molière, La Fontaine, La Bruyère und Boileau, jenen der antiken griechischen und römischen Antike ebenbürtige Erben, die europäische Literatur in die Moderne katapultierten, allerdings nicht ohne Krise, wie sie Paul Hazard 1935 in seinem Buch Die Krise des europäischen Geistes 1680-1715 beschrieb. Im 17. Jahrhundert konstatiert der Autor, dass mehr oder weniger simultan europaweit Tendenzen zu beobachten sind, an allem, was mit überkommenen Machtstrukturen zu tun hat, Kritik zu üben, was zum Entstehen des modernen europäischen Bewußtseins beigetragen hat. Die Denkschulen der Zeit nennt der Autor forsch „Thinktanks“, dessen Feind die katholische Kirche war. Und politisch überschattete der Dreißigjährige Krieg mit seinen Gräueln das geistige Vorpreschen.
Fortsetzung folgt
Foto:
Cover
Info:
Jürgen Wertheimer, Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen, Penguin Verlag München 2020, 574 S.