soringwindJens Söring schreibt über seine 33jährige Haft, Doris Wind über die Folgen des kleinkindlichen Mißbrauchs an ihr, Teil 1/3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wie fange ich an? Das überlegte ich leicht verunsichert, denn gleich, nachdem ich EINE UNFASSBARE SEHNSUCHT von Doris Wind zu lesen angefangen hatte, beschloß ich, eine gemeinsame Besprechung zu wagen, mit dem ersten Buch in Freiheit RÜCKKEHR INS LEBEN von Jens Söring, der nach 33 Jahren in amerikanischen Gefängnissen im Dezember 2019 nach Deutschland abgeschoben wurde. Das Warum liegt auf der Hand, einmal wird hier ein junger Mann aufgrund seiner eigenen Dummheit jahrzehntelang weggesperrt, ein andermal wird ein zweijähriges Mädchen von ihrem Großvater unter Mitwissen der Mutter vergewaltigt, systematisch über all die Jahre, bis der Peiniger stirbt, als sie 10 Jahre ist, und sie diesen Unhold mitsamt den furchtbaren Erinnerungen an ihn in sich selbst einsperrt.

Der Mann ist zum Zeitpunkt seiner Freilassung 53, jetzt 55, die Frau zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches 59 Jahre und auf dem Wege, sich freizuleben. Gefangen alle beide. Ich komme darauf zurück. Denn die größte Erfahrung beim Lesen der UNFASSBAREN SEHNSUCHT war die, was nach der Beendigung der autobiographischen Erzählung von 217 Seiten mit mir passierte. Ich fing sofort an. Nein, diesmal machte ich keine Pläne, sondern begab mich gleich in die Ecke, wo ich seit Monaten angefangene Artikel, halbfertig gelesene Bücher, mir wichtige Zeitungsartikel und all so Sachen, die ich eigentlich, eigentlich sofort, eigentlich auf auf jeden Fall dann später lesen, fertig bearbeiten, erledigen und wegräumen wollte. Seit Monaten. Und jetzt tat ich es. Warum? Weil mich beim Lesen zunehmend eine solche Energie packte, die ich ausnutzen wollte. Ich wollte und konnte etwas tun, etwas, was mir schon lange auf der Seele lag und ich wußte genau, die anderen Ecken kommen auch dran, in der Bibliothek, im Krimikeller, in der Redaktion...

Natürlich beschäftigte mich auch, woher ein solcher Energieschub kam. Denn ohne solche Schübe wäre ich meinem Leben als Macherin einer Zeitung, die ein ziemlich weites Spektrum abdeckt und in der ich selbst über weitgestreute Themen schreibe, nicht weit gekommen. Wir alle leben immer dicht unterm Rand der totalen Überforderung. Freiwillig. Woher also auf einmal die Energie nach dem Lesen von EINE UNFAßBARE SEHNSUCHT.? Weil ich froh war und bin, daß mir das alles nicht passiert ist? Nein, das wäre zu billig. Weil ich froh bin, daß die Verfasserin aus ihrem Loch nicht nur herausgekommen ist, sondern sogar anfängt, es zuzuschütten und darauf zu tanzen. Ja, sicher, auch, Genauso wie ich verblüfft war, daß Jens Söring, den ich bedauerte, daß er gleich nach seiner Freilassung im März in unser aller Coronafall und die Coronafalle geriet und im Lockdown festsaß, wo er sich doch auf die Welt und das Reisen gefreut hatte, daß dies für ihn fast belanglos blieb, angesichts der persönlichen Freiheitslust, in einer Wohnung zu leben wie er will und nicht den Gefängnisritualen und ihren Demütigungen und Gefahren an Leib, Leben und Verstand ausgesetzt zu sein. Ja, eindeutig, meine gebündelte Energie kam von der Freude her, daß beide ihre mehr als schwierige, ja eigentlich aussichtslose Lage durch eigenes Zutun ändern konnten. Und wenn ich mich nicht selbst mit solchen existentiellen Lebensabgründen beschäftigen muß, um zu überleben, wie diese beiden Autoren, dann werde ich doch diese Kruschelecken aufzuräumen schaffen! Gedacht, getan.

Was mir aber blieb beim Hin- und Herüberlegen von einem, der, wie gesagt, sogar selber daran schuld ist, daß er 33 Jahre unschuldig unter widerlichen Verhältnissen in Haftanstalten vegetierte und einer, die die Traumata ihrer Kindheit erst einmal so bewältigte, daß sie die ersten zehn Jahre absolut vergaß, sich an nichts mehr erinnern konnte, ein Selbstschutz, der einen sprachlos macht, was mir also als Gemeinsames blieb, ist die Erkenntnis, wie stark auch dann, wenn sich die ganze Welt gegen einen verschworen hat, man sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann, wenn, ja wenn man auf Menschen trifft, die einem dabei helfen, heraus zu finden. Der Urentschluß, die Situation ändern zu wollen, muß schon in einem selbst hochschießen oder langsam reifen, aber dann ist es in beiden Fällen einfach schön mitzuerleben, daß es Menschen und sogar viele Menschen gibt und gab, die diesen beiden Jens Söring und Doris Wind auf natürlich völlig unterschiedliche Art halfen.

Dann dachte ich als nächstes, es müßte jeder der beiden das Buch des anderen lesen. Einmal von einem, der wirklich eingesperrt war und auch in diesem Buch noch einmal die härtesten Fakten von amerikanischen Gefängnissen nennt und wie man diese überlebt und dann eine, die in sich selber das Gefängnis vorfand, in das sie Großvater und Mutter gesperrt hatten, weil sie lange den Schlüssel nicht fand zur Selbstbefreiung.

Und dann dachte ich wiederum als nächstes, weil beide Schicksale unsäglich sind und ich bezweifle, ob ich mich in ihren Lagen hätte befreien können, auf einmal an die Überlebenden von Auschwitz, was nur ein Synonym für alle Vernichtungs- und Todeslager der Nazis sind und von denen – wie ein Wunder – einzelne gerade hundert Jahre werden. Wie haben es diese Menschen geschafft, trotz des Grauens, der Ängste, des ständigen Hungers, der sexuellen Demütigungen, ja Vergewaltigungen gab es in den KZs auch, sie wurden nur anderes genannt, weiterzuleben. Und es haben ja auch nicht alle geschafft, weiterleben zu können in der Gewißheit, daß die anderen umgebracht wurden, wenn man an das Schicksal des ans Herz gehenden Primo Levi denkt, dem wir zwei KZ-Bücher verdanken: IST DAS EIN MENSCH und DIE ATEMPAUSE, seinen Weg von Auschwitz zu Fuß zurück nach Italien - und der sich 1987 dann doch umbrachte, weil das Weiterleben bei so vielen Toten auch beschweren kann. Das Überleben war für manchen wie eine Strafe, an all die Ermordeten ständig denken zu müssen. Angesichts solcher Schicksale relativiert sich alles, was im Nachkriegsdeutschland an Schlimmen passiert ist.

Diese Gedanken kamen nach dem Lesen beider Bücher von alleine und wie es heißt, sind die Gedanken ja frei und erst danach kommen die Reflexionen, die einem sofort die Unterschiede deutlich machen. Die Überlebenden hatten ein kollektives Schicksal zu verarbeiten. Das macht es nicht leichter und in einem Sinne doch. Sie mußten sich nicht fragen, was an ihnen verkehrt ist, was sie falsch gemacht hatten, wieso sie in diese Situation geraten sind, denn sie waren als Teil eines Volkes, als Teil einer Religionsgemeinschaft, als Teil einer politischen Ausrichtung miterfaßt worden, also nicht aufgrund ihres persönlichen Verhaltens.

Dem aber müssen sich sowohl Jens Söring wie auch Doris Wind stellen. Beide müssen sich als Urheber ihrer Leiden ansehen, wobei es ein großer Unterschied ist, ob ein achtzehn/neunzehnjähriger großspuriger Rotzbengel eine falsche Entscheidung trifft, für die geliebte Frau einen Mord zu gestehen, als ein Kind, das absolut nichts dafür kann, nichts falsch gemacht hat, ein Kind, an dem sich die eigene Familie vielfach vergangen hat: die Täter Großvater und Mutter, aber auch die Geschwister, die dazu schwiegen.

Und der Leser hat für sich zu entscheiden, was eigentlich schlimmer ist. Das Eingesperrtsein in einem amerikanischen Gefängnis oder das eigene Leben ein lebenlang als Gefängnis begriffen zu haben, wo jeder Schritt, jeder echte Schritt aus der Wohnung heraus nicht möglich war, weil er durch Panikattacken verhindert wird.

Nun aber genug mit den Gemeinsamkeiten, die uns überfielen und diesen Energieschub auslösten. Jetzt kommt jedes Buch und deren Verfasser und Verfasserin zu ihrem Recht.

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Info:
Jens Söring, Rückkehr ins Leben. Mein erstes Jahr in Freiheit nach 33 Jahren Heft, C. Bertelsmann 2021
ISBN 978 3 570 10434 7

Doris Wind, Eine unfaßbare Sehnsucht. Autobiografische Erzählung, Christel Göttert Verlag 2021
ISBN 978 3 939623 78 6

Übrigens ist Kruschel südhessisch und bedeutet: Gelump, Gelumpe, Gerümpel, Kram, Krempel, Krims-Krams, Ramsch, Zeug, Zeugs, was bei Journalisten auf jeden Fall viel Papier bedeutet.