Bildschirmfoto 2021 12 15 um 01.25.29Jens Söring schreibt über seine 33jährige Haft, Doris Wind über die Folgen des kleinkindlichen Mißbrauchs an ihr, Teil 2/3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Setze ich nicht zu viel voraus/Muß ich nicht zu viel voraussetzen, wenn ich gleich über Jens Söring, sein selbst- und sein fremdverschuldetes Schicksal, seinen Aufenthalt unter mehr als unwürdigen Verhältnissen in amerikanischen Gefängnissen, wo man eher vergewaltig wird als gebessert, weil die Bosse unter den Gefangenen mehr zu sagen haben als die Wärter, die froh sind, wenn das Gefängnisbinnenleben unter den Gefangenen reguliert wird. Das fatale Recht des Stärkeren.

Muß ich nicht erst mein eigenes Wissen seit vielen Jahren, das Lesen seiner Bücher oder Bücher über ihn und den Dokumentarfilm, der wirklich gut ist und auch mich als Zuschauerin erst über diesen Justizfall informierte, so daß ich weiterlas, muß ich also nicht erst den Fall Söring aufbereiten, damit der Leser, die Leserin weiß, um was es geht? Nein, muß ich nicht. Dieses Buch kann auch derjenige sehr gut und mit Gewinn lesen, der noch nie von Jens Söring gehört hat, von Liebe und Elternmord in den USA nichts weiß, geschweige denn von der Selbstbezichtigung des neunzehnjährigen deutschen Diplomatensohns, um die amerikanische Freundin vor dem Todesurteil zu retten und vielem mehr. Was mir, die ich das alles kenne, beim Lesen des neuen Buches manchmal redundant war, bedeutet gleichzeitig, daß Autor Jens Söring sinnvoll in die Gegenwart des Jahres 2020 die verschiedenen Stadien der Vergangenheit einfließen läßt, die alle Kontrast sind zu dem, was er seit seiner Ankunft im Dezember 2019 auf dem Frankfurter Flughafen genießt: seine Freiheit. Was das konkret bedeutet, ist also Gehalt dieses Buches, das deshalb so beginnt: „Ich besitze eine Brille, einen grauen Jogginganzug, ein Paar weiße Turnschuhe, braune Stiefel ohne Schnürsenkel, 53 Dollar in bar und meine Freiheit. Ich bin ein reicher Mann.“

Davon hat er in seinen Zellen 33 Jahre lang geträumt und erst, als er nach seiner Rückkehr über den Flughafen Frankfurt Richtung Hamburg, dort in seinem Zimmer, das ihm Freunde für ein Jahr und länger zur Verfügung stellen, am ersten Morgen aufwacht, ein selbstbestimmtes Aufwachen von alleine, recht spät um 9.23 Uhr, erst da wird ihm klar: dies Aufwachen ist „die erste freie Entscheidung meines neuen Lebens. Noch bis gestern rissen mich an jedem Tag die Trillerpfeifen der Wärter in aller Früh aus dem Schlaf, wenn die morgendliche Zählung begann. Der gellende Ton der Pfeifen bohrte sich durchs Ohr direkt ins Gehirn und drehte sich dort in Kreisen. Darauf folgte der Schrei AUFWACHEN!AUFSTEHEN! LICHT AN! BEIDE FÜßE AUF DEN BODEN!“

Das habe ich nicht wegen der Bedeutung der Aussage zitiert, da gibt es im Film erschütterndere, interessantere, wichtigere, tiefere, sondern um daran Sörings Schreibstrategie zu verdeutlichen, wie er die Erinnerung ins Jetzt hineinwebt. Daß er ein erfahrener Schreiber ist, erkennt man spätestens dann, wenn man registriert, daß er die Rückerinnerung nicht mechanisch immer auf dieselbe Art bringt, sondern das Hier, das Gestern und Vorgestern, die Ereignisse, die Gefühle, die eingetretenen Erwartungen, die ersten Schritte aus der Wohnung, ganz läppische Dinge, wie einen Kaffee trinken, auf wundersame Weise mischt, daß daraus eine anregende Lektüre von 301 Seiten wird.

Ich, die ich bei dem von ihm beschriebenen Journalistenpulk bei seiner Ankunft am Frankfurter Flughafen im Dezember 2019 dabei war, mußte im Jahr 2020 immer wieder daran denken, daß Jens Söring ab März in unser aller Coronafalle saß, die – so stellte ich mir das vor – ihm besonders viel ausmachen müßte, denn er war ja über drei Jahrzehnte in Gefängnissen eingesperrt und da muß die Sehnsucht, unterwegs zu sein, Leute und Gegenden aufsuchen zu können doch groß sein. Heute, nach der Lektüre, denke ich sogar, daß die Reduktion von Leben aufgrund der notwendigen Quarantänen, des allgemeinen und teilweise totalen Lockdowns für uns viel belastender waren als für Jens Söring, der jeden Tag als Tag in Freiheit sehr viel stärker positiv wahrnimmt als wir, die wir uns durch Corona in beruflichen Angelegenheiten beschränkt und im privaten Leben ohne Treffen mit Freunden und ohne Umarmungen bei Begrüßungen schon als verarmt empfinden.

Jens Söring erzählt ohne Scheu, wozu die Ausgangslage, gehört daß er heute seine eigene Dummheit, ein Mordgeständnis abgelegt zu haben, als Ursache des verlorenen Lebens ansieht, in dem er eine Opferrolle im Gefängnis in voller Schärfe erlitt. Andererseits, das wurde mir erst im Zusammenhang mit echten Opfern wie Doris Wind klar, machte er sich zum Herrn des Geschehens, bzw. ist er durch bewundernswerte mentale Kraft sowie menschliches Geschick den gröbsten Gefängnisgefahren entgangen, was einem beim Lesen wie ein Wunder vorkommt, erst recht, wenn er amerikanische Gefängnisse als die Hölle auf Erden schildert, woran ich auch nicht den geringsten Zweifel habe.

Wie sich dieser Mann am eigenen Schopf aus eigentlich aussichtsloser Situation (wegen Mord ohne richtige Indizien verurteilt, keine Berücksichtigung neuerer kriminalistischer Erkenntnisse seiner Unschuld, immer wieder Ankündigungen einer Neubewertung und sogar Begnadigung, dann Abschiebung nach Deutschland) herausgezogen hat, schildert er schlicht und überläßt dem Leser, sich sein Bild zu machen, welche Persönlichkeit im Kampf um seine Unschuld und Freiheit aus diesem Knaben geworden ist. Naja, so weit, diese unmenschlichen Gefängnisse als Schule für eine positive Persönlichkeitsentwicklung zu empfehlen, will ich jetzt nicht gehen. Natürlich nicht. Ich bin keine Zynikerin, aber was auffällt ist, wie Jens Söring gerade gegen die Widerstände und Gefahren seinen Weg fand. Respekt.

Aber das eigentliche Buch handelt vom Eintritt eines Menschen ins offene Leben, der die Bundesrepublik Deutschland nur als Kind erlebt hatte und nun nach über 33 Jahren in Haft erst einmal zu leben lernen muß. Das schildert Söring sowohl im Detail – wie ist es, das erste Mal eine elektrische Zahnbürste zu benutzen, alle technischen Entwicklungen auf einen Schlag zu lernen – wie auch in verschiedenen Szenen mit Menschen, die er trifft oder gerade neu kennenlernt. Daß sein erstes Jahr in Freiheit nun auch noch durch Corona beschwert wurde, gibt seinen Aufzeichnungen ein historisches Gewicht.

Was mir besonders gefällt, ist diese Melange aus Offenheit und Dezenz, die er walten läßt, weil uns vieles nicht angeht, was den Privatmenschen Jens Söring angeht, zu dem er jetzt werden darf und was er selber in der Hand hat.

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Info:
Jens Söring, Rückkehr ins Leben. Mein erstes Jahr in Freiheit nach 33 Jahren Heft, C. Bertelsmann 2021
ISBN 978 3 570 10434 7

Doris Wind, Eine unfaßbare Sehnsucht. Autobiografische Erzählung, Christel Göttert Verlag 2021
ISBN 978 3 939623 78 6