Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Es gibt Bücher, die man nach dem Lesen weglegt und nie wieder zur Hand nimmt, und es gibt Bücher, die so schön geschrieben und so interessant sind, dass man immer wieder gern darin blättert. Und dann gibt es Bücher, auf die weder das eine noch das andere zutrifft und die trotzdem immer wieder zur Hand genommen werden, Taschenwörterbücher.
So eins liegt vor mir auf dem Tisch. Mein Vater hat es mir hinterlassen. Es ist die 33. Auflage eines Taschenwörterbuches der böhmischen und deutschen Sprache, erschienen vor 99 Jahren auf dem bedeutendsten europäischen Versuchsfeld für gute Nachbarschaft, in Mähren, dem mittleren Teil der 1918 gegründeten ersten Tschechoslowakischen Republik, davor eines der von den Habsburgern beherrschten Kronlande.
Das Aussehen des Wörterbuches lässt darauf schließen, dass es emsig benutzt worden ist. Die Buchdeckel sind abgenutzt und werden von einem Heftpflaster zusammen gehalten. Erschienen ist es in einem südmährischen deutschen Verlag, der bis 1923 mehr als 200 000 Exemplare gedruckt hatte. Dazu muss man wissen, dass nach einer Volkszählung aus dem Jahr 1910 in Mähren rund 1, 8 Millionen Tschechen und rund 700 000 Deutsche gelebt haben. Danach war das Wörterbuch ein Verkaufsschlager erster Güte.
Die hohe Auflage war Ausdruck der menschlichen Sehnsucht nach Ausgleich und Geborgenheit. In Mähren trafen Welten aufeinander, hier schlug ds Herz Europas, hier überschnitten sich die Handelswege aus allen Richtungen, vornehmlich die von den Häfen an der Adria zur den Metropolen an der Ostsee. Hier stand die Wiege von Menschen, die unser Weltbild geprägt haben, die Wiege des Philosophen und Begründers der modernen Erziehungswissenschaft, Johann Amos Comenius, hier wurde Sigmund Freud geboren, der die Medizin revolutioniert hat, und hier kam der alle betörende Tenor Leo Slezak auf die Welt.
Alles drängte hier zum Miteinander. Das geflügelte Wort, so viel Sprachen du sprichst, so oft bis du Mensch, fiel hier auf fruchtbaren Boden. Fünfhundert Seiten stark ist das Taschenwörterbuch der böhmischen und der deutschen Sprache. In der Breite misst es neun Zentimeter und in der Länge dreizehn. Geworben wurde auf den Innenseiten der Buchdeckel unter anderem für den Unterricht an einer Schule für Französisch, für Božena Němcovás Welterfolg „Babička“ (Die Großmutter) und für ein Buch über die tschechische Vogelwelt.
Bezeichnend für das Streben nach Versöhnung war der „Mährische Ausgleich“, mit dem 1905 der Versuch unternommen wurde, im Sprachenstreit zwischen Tschechen und Deutschen einen annehmbaren Kompromiss zu erzielen. Er gewährte beiden Seiten unter anderem eine eigene politische Vertretung im Landtag von Mähren. Vom Begründer der ersten Tschechoslowakischen Republik, Thomas Masaryk ,stammt der Satz: „Meine Heimat war nie so glücklich, wie als Bestandteil der österreichisch-ungarischen Monarchie“.
Von meinem Vater sorgfältig versteckt hat das Taschenwörterbuch der böhmischen und deutschen Sprache die schwere Zeit nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Berlin überstanden. 99 Jahre nach seinem Erscheinen zeugt es noch immer von der Sehnsucht der Menschen nach Frieden.
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Das Buch
©privat
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