Irmgard Keuns NACH MITTERNACHT, Frankfurt liest ein Buch 2. – 15. Mai 2022, Teil 3
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wir wollen anläßlich von NACH MITTERNACHT, das Frankfurt ab 2. Mai gemeinsam liest, auch andere Werke von Irmgard Keun herausstellen. Kennen heute die Leute, die jüngeren, überhaupt noch D-Züge? Und vor allem, kennen Sie noch dritte Klasse Abteile? Die Holzklasse, was nichts zutun hat mit der S-Klasse von Mercedes, eher das Gegenteil. Wir vermuten, doch doch, auch die Jungen kennen das, nämlich aus älteren oder alten Filmen, wo man doch mal wieder sehen kann, daß Filme sinnliche Kulturträger sind. Meine Rede. Immer wieder.
Welche Karriere würde Irmgard Keun heute machen! Das ist gewiß, denn sie verbindet skurrile Inhalte mit süffiger Sprache. Als sie schrieb, einmal in den Endzwanziger/Dreißiger Jahren, durch die Nazis verboten in der Nachkriegszeit ohne Erfolg und dann in den Siebzigern mit akutem Erfolg, der nicht anhielt. Damals, das kann ich von heute her so konstatieren, unterschied man noch die E-Literatur und die U-Literatur analog der Musik. Und Irmgard Keun war einfach so unterhaltsam beim Lesen, daß sie eben keine ernsthafte Schriftstellerin hätte sein können.„werch ein illtum“, um mit Ernst Jandl zu sprechen, von dem ich heute gerne wüßte, ob er Irmgard Keun überhaupt gekannt hat. Denn sie gehört ja zu denen, die uns die Nazis vorenthalten hatten, die die deutsche Kulturelite verbot, vertrieb, vergaste.
Und heute wäre sie wirklich am rechten Platz, denn heute gibt es geradezu eine Flut von – meist – Frauen, die Bücher schreiben, die meist Romane sind, mit einem geschichtlichen Hintergrund, oft mit ein wenig Politik, auch der Frauenbewegung, auf jeden Fall auf einem Niveau, dem man nicht vorwerfen kann, abgehoben zu sein. Auch wie war das früher noch einfach mit der ‚richtigen‘ Literatur und mit der quasi falschen, nämlich den Lore-Romanen, den Arzthelferinnenromanen, die immer ihren Arzt kriegten, nie umgekehrt, nie eine Ärztin einen Arzthelfer, denn das wäre ja ein gesellschaftlicher Abstieg gewesen, während im ersten Fall der sozialer Aufstieg der jungen Frauen auch das Herz der Leserin höher schlagen läßt.
Ach, wie ragt das Schreiben der Irmgard Keun doch aus der heutigen Massenliteratur heraus! „An einem späten Nachmittag im Juni verließ ein D-Zug den Anhalter Bahnhof in Berlin...Der Zug fuhr nach Paris.“ Und tatsächlich kommt die Hauptfigur, Lenchen, mit anderen aus dem Abteil dort an, allerdings nicht mit allen und vor allem nicht mit ihrem Karl – „Lenchen fand, daß kein Pelzkragen so wärmend und schmückend sein konnte wie ein Männerarm.“ - und auch nicht mit ihrer debilen und hinfälligen Tante Camilla, in deren eng geschnürter Korsage, von Panzer wird gesprochen, sie die Tausender versteckt haben, deren Ausfuhr die Nazis verboten haben, weswegen sie auch an der Grenze intensiv durchsucht werden. Aber an Tante Camilla traut sich keiner ran, die über der Grenze aus ihrer Lethargie erwacht und einfach unterwegs aussteigt, was Karl bewegt, seinem Geld hinterherzustiefeln.
Wie das ausgeht, wissen wir nicht, denn in diesem Roman ist der Weg das Ziel. Wirklich köstlich, was in diesem Abteil für sieben Personen auf der langen Reise über Köln alles passiert, denn jeder der Insassen bringt seine eigene Geschichte mit. Und an Lenchens Auf und Ab auf der Reise entwickelt sich die Geschichte. Eigentlich ist sie ja mit Karl unterwegs, aber sie versteht sich gut mit dem jungen Mann, dem Studenten, oder ist da mehr? Der Gemüsehändler, der mit den Sex-Postkarten, die Karl einfach aus dem Fenster wirft, hat’s faustdick hinter den Ohren und befindet sich auf der Flucht. Doch das und was er getan hat, kommt eben erst nach und nach heraus, wie das so ist bei einer langen Fahrt, wo man sich Kilometer um Kilometer näher kommt – oder im Gegenteil, sich immer weiter von einander entfernt. Als der Reihe tanzt die Behäbige, die sich immer wieder Eier schält und das Abteil wechseln will, sich dann als Nazianhängerin entpuppt, was bei den anderen nicht gut ankommt. Denn, wer nach Paris will, der will doch auch irgendwie weg aus Deutschland. Die persönliche Gefahr durch die Machthaber und die Ungewißheit, ob der Zugnachbar ein Anhänger oder Gegner der Nazis ist, ist der insgheime Hintergrund.
Den Ton im Abteil gibt der dicke Mondgesichtige mit rheinischem Tonfall an, der am Fenster Lenchen gegenübersitzt und echt was auf dem Kerbholz hat. Von dem alten Mann, dem strengen, müßte man auch noch berichten, aber das Entscheidende ist eben das Hin und Her zwischen den Menschen im Abteil, von denen nicht alle so ein Hühnchen sind wie Lenchen, die aber andererseits mit ihrer Schwäche ihre Stärke zeigt.
Eine echt interessante Reise nach Paris. Und eine Schriftstellerin, die immer wieder neu zu entdecken ist.
Foto:
Cover
Info:
Irmgard Keun, D-Zug dritter Klasse, Ullstein Taschenbuch 06595, Neuauflage 1. März 2022
ISBN 978 3 548 06595 3
Bisherige diesjährige Artikel zu Frankfurt liest ein Buch: Keun
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/24520-auf-was-wir-uns-freuen-duerfen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/24521-heute-vor-116-jahren-wurde-irmgard-keun-geboren