Bildschirmfoto 2022 04 28 um 00.36.18Die Bern-Zürich-Ermittlerconnection dreht diesmal auf und fast durch

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Kennengelernt habe ich Christine Brand, nein, nicht persönlich, sondern literarisch durch ihre Gerichtsreportagen, die sie in WAHRE VERBRECHEN knallhart zusammenfaßte. Danach hat die, wie sie selbst schreibt, in der Welt herumvagabundierende Autorin wahre Fälle zum Anlaß genommen, daraus fiktive Kriminalromane zu verfassen, die Zweierlei gemeinsam haben: sie werden immer länger (über 500 Seiten) und sie lassen eine ganze Ermittlergruppe auftreten, deren Individuen in jedem der bisher vier Bände – BLIND, DIE PATIENTIN, DER BRUDER, jetzt neu DER UNBEKANNTE – insgesamt auftreten, aber in jedem unterschiedliche Anteile haben.

Das schreibe ich deshalb, weil der Verlag vom Ermittlerduo spricht: von der Journalistin und TV-Reporterin Milla Nova und Sandro Bondini, Chef der Abteilung Leib und Leben der Berner Polizei, die ihren vierten Fall lösen. Das ist nicht völlig falsch, aber doch viel zu wenig, denn in diesem Krimi geht es hauptsächlich um den blinden Nathaniel, dessen Familie von seinem eigenen Vater ausgelöscht wurde, der ihn anschoß, weshalb er blind ist, und den er getötet haben soll. Doch nicht nur seine Augen sind blind, das als Kind Erlebte ist selbst ein absolut blinder Fleck in seinem Leben, an den er nicht rührt, weil er sich dem bisher nicht gewachsen fühlte. Nathaniel, sein Schicksal und die immer wieder auffälligen Verbrechen um ihn herum werden auch in den drei Vorgängerbänden zum Thema, aber diesmal stellt er sich der blutigen Vergangenheit, spielt also die Hauptrolle, wobei die Rechtsmedizinerin Irena Jundt, die in DER BRUDER eine wesentliche Rolle spielte, diesmal nur ihre Arbeit macht und auch die lesbische Carole und ihr Sohn Silas, Hauptrollen in DIE PATIENTIN, hier nur Nebenfiguren sind, obwohl ja Nathaniel sie geheiratet hatte, damit sie ihr Kind zugesprochen erhielt. Was geschah. Aber inzwischen hat er eine eigene Freundin, Gundula, die souverän genug ist, mit der Situation klar zu kommen.

Aber jetzt kommt’s. Mit einem furiosen Beginn wird ein Stein ins Wasser geworfen, der eine Sturmflut zur Konsequenz hat. Allein für diese Idee – ja, sie ist auch ähnlich genauso passiert – lohnt das Lesen, das mit den zunehmenden Seiten einem viel an Zufällen, Unwahrscheinlichkeiten, Übertriebenem zumutet. Aber wie gesagt, der Anfang ist ein Paukenschlag. Millas Mutter Margret, eine gut erhaltene, muntere Siebzigjährige hat einen Liebhaber Ronnie, schon seit einem Jahr. Es ist wunderbar in diesem Alter noch einmal tiefe Liebe und lustvollen Sex zu erleben und doch ein doppeltes Pech. Er ist verheiratet. Er ist eine, ja die politische Führungsfigur. Und doch will er sich scheiden lassen, was ihr gar nicht gefällt, denn es ist gut, wie es ist. Nur wird ihm heute beim Liebesspiel erst schlecht, dann ist er tot. Herzinfarkt denkt sie, will die Rettung anrufen...bis ihr klar wird, daß er als öffentliche Figur eine andere Lösung braucht. Sie ruft ihre Tochter an, die gerade ganz andere Sorgen hat, weil sie vom Freund Sandro schwanger auf eine Fehlgeburt zusteuert, die auch eintritt, als sie sofort zur Mutter eilt und den Toten elegant ‚entsorgen‘ will, was schiefgeht. Wirklich witzig, ja aberwitzig geschildert, erst recht als seine rechtmäßige Frau, eine heftige Alkoholikerin ins Spiel kommt, die ganz am Schluß noch eine Variante drauf hat, mit der niemand gerechnet hat.

Aber wie gesagt, hauptsächlich ist es die Geschichte von Nathaniel und seinem Blindenhund Alisha, der Felix Winter, den Polizisten, der jetzt vor der Pensionierung vor 30 Jahren den Mord an seiner Familie nicht aufklären konnte, auf dessen Angebot anspricht, endlich die Akten von damals zu lesen. Doch sind die auf einmal verschwunden und wir haben den Roman über immer wieder Hinweise, daß mit Winter etwas nicht stimmt. Und ganz am Schluß versteht man auch, warum und was der Tod des Ronnie, offiziell Aaron Trachsel, dann auf einmal mit den Morden von Nathaniels Familie zu tun hat.

Unglaublich, was Christine Brand da alles hineinpackt an echter Geschichte, der RAF der Siebziger und ihren Schweizer und italienischen Ablegern, den Abtrünnigen genauso wie den Ewig Gestrigen, die den Blinden mit seiner Lieblingsnachbarin, der über achtzigjährigen Veronika nach Neapel bringt. Man kommt rum in diesem Krimi , aber hauptsächlich wird die Bahn zwischen Zürich, wo Milla wohnt und arbeitet und Bern, wo alle anderen sitzen, bemüht, meist von Milla, weil die wichtigsten Dinge in Bern geschehen, die überhaupt für eine Journalistin, die dieses Buch bespricht, die wichtigste Person wird, weil unser Alltag, die Hetze – so fragt sie sich, weshalb sie den Zug immer in letzter Minute gerade noch so erwischt, genau wie wir die U-Bahn – oder auch dem Auftragsdruck ausgeliefert ist, dem Redaktionsschluß für Artikel etc. sehr gut wiederzuerkennen ist.

Also, alles in allem, ein wüstes, manchmal sehr herbeikonstruiertes Geschehen, aber spannend und teils witzig geschrieben. Auf jeden Fall motiviert das Lesen für einen fünften Band, der kommen soll.

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Info:
Christine Brand, Der Unbekannte, Blanvalet 2022
ISBN 978 3 7645 0770 1

Bisherige Rezensionen
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/24690-die-dramatischsten-faelle-einer-gerichtsreporterin