Irmgard Keuns NACH MITTERNACHT, Frankfurt liest ein Buch 2. – 15. Mai 2022, Teil 5
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nachgetragene Liebe nennt man so was wohl. Denn ich kenne Irmgard Keun (6. Februar 1905 Berlin – 5. Mai 1982 Köln) schon lange, das heißt, seit den Sechziger Jahren, als ich mich unsterblich in das Werk von Joseph Roth verliebte, der sie zwei Jahre lang liebte, aber wohl nicht ausdauernd genug – oder lag es an ihr? Das alles soll ein andermal näher beleuchtet werden, aber daß Irmgard Keun mir ab da eigentlich bekannt war und ich dann auch einige Romane von ihr las, hätte – mit meinem heutigen Blick – eine festere Beziehung zu dieser Frau bedeuten müssen.
Das sage ich heute, wo ich ihre Bücher wiederlese, die ich, wie gesagt schon damals kannte, aber als ganz junge Frau das nicht so umwerfend fand, wie es mir jetzt geschieht. Inzwischen weiß ich mehr über die literarische Einordnung, die ja auch leicht ein Gefängnis wird und stelle nachträglich fest, daß ich mich zuerst für die als expressionistische Dichterinnen Bezeichneten, wie Else Lasker-Schüler und Sascha Kaleko, interessierte, bevor dann die als Neue Sachlichkeit eingeordneten Schriftstellerinnen mich mit der Frau der Zwanziger Jahre als Angestellte oder sonstwie kleine Maus konfrontierten. Keine Ahnung, ob darunter auch Vicki Baum fällt, die ja nicht nur MENSCHEN IM HOTEL geschrieben hatte, sondern für Ullstein eine berühmte Autorin wie eine Geldmaschine wurde, und die sich vor den Nazis in die USA rettete. Ich las auch Helen Hessel, Gabriele Tergit und eben Irmgard Keun.
Erst heute kann ich Tucholsky zustimmen, was dieser schon 1932 über Keuns Debütroman GILGI, EINE VON UNS schrieb: „Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an!“ Und vor allem seiner literarischen Charakterisierung ihrer sprachlichen Attitüde, die in Worte zu fassen, richtig schwierig ist. Er lobt ihre „beste Kleinmädchen-Ironie“ und hat ihr nicht nur Talent zugebilligt, sondern erwartet: „Aus dieser Frau kann einmal etwas werden.“ Wäre auch, hätten nicht die Nazis mit aufmüpfigen Frauen, sprechen sie auch noch so harmlos daher, nicht nur nichts anfangen können, sondern sie verbieten müssen. Aber bleiben wir erst einmal bei ihrer literarischen Ausdrucksweise, die ja nicht nur in NACH MITTERNACHT von ihr angewandt wird, wenngleich hier doch besonders stark, weil in den anderen Büchern zwar die Ironie auch dick durchscheint, aber die politische Aussage in diesem Frankfurtbuch durchgehend sind und einen heute erfreuen, aber auch staunen machen, was sie alles beobachtet hat, wie sie die Menschen in ihrer seelischen und geistigen Verwahrlosung erkannte und in Worten wiedergeben konnte. Und das alles im Kleinmädchenjargon.
Wahrscheinlich fand ich diese Ausdrucksweise in den Siebzigern, als tatsächlich Irmgard Keun auf einmal wieder da war und neu veröffentlich wurde, nicht so prickelnd. Das waren Zeiten, wo junge Frauen sich eben nicht verschämt mädchenhaft und mit kindlicher Stimme, sei der Inhalt auch noch so zutreffend, sondern mit eigener Stimme und eigenem Gesicht öffentlich und auch auf den Buchseiten zeigen wollten. Nur so kann ich mir heute erklären, daß ich zwar damals die neu veröffentlichten Romane las, aber wohl Grabbes „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ für mich in „ohne tiefere Bedeutung“ umwandelte, denn es folgte aus der Lektüre nichts, das heißt: keine weitere Beschäftigung mit der Autorin.
Fortsetzung folgt
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Info:
Irmgard Keun, Nach Mitternacht, Roman, Claassen 2022
ISBN
978 3 546 10034 2
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