Bildschirmfoto 2022 07 16 um 06.09.44Sibylle Berg greift in ihren Büchern der Zeit vor, die später zur Wirklichkeit wird, so auch in ihrem neuen Buch – ein Gespräch

Yves Kugelmann

Basel (Weltexpresso) - tachles: Ihr neues Buch «RCE» steht für Remote Code Execution und ist der zweite Teil einer Trilogie. Also zuerst die Analyse, dann die Diagnose und dann folgt die Lösung?

Sibylle Berg: Fast. «GRM», der erste Teil von eventuell drei – vielleicht werden es am Ende ja 278 Teile – ist eine Bestandsaufnahme des aktuellen Zustandes in großen Teilen der Welt, die sich in einem Vor-Katastrophen-Zustand befindet, in der absehbar fast alle Kipppunkte erreicht sind. Das zu erwartende Chaos zeigt sich jetzt bereits in Inflationen, Naturkatastrophen, Seuchen, Bränden Überschwemmungen, Massenverarmung gegenüber einer kleinen Elite, die weitermacht wie immer, und ihr Edelpreppertums ausbaut. Um die Massen in einer Ruhe zu halten, wird ihre Überwachung exponentiell vorangetrieben. Ich wollte diese etwas deprimierende Bestandsaufnahme nicht so stehen lassen und brauchte für mich eine Vision. Das ist «RCE». Aber die Bücher können auch völlig unabhängig voneinander gelesen werden.


Zum Thema Überwachung haben Sie enorm viel recherchiert und präsentieren damit nicht eine Erzählung, sondern Fakten über Ausmaß und Gefahren.

Ich habe nicht recherchiert, ich bin ein Genie. Okay, kleiner Spaß.

Gerade wurde das Schweizer Überwachungsgesetz, für das sich die Bürgerinnen der Schweiz entschieden haben, durch die Streichung des besonderen Schutzes und der Geheimhaltung von rechtlichen gesundheitlichen und journalistischen Daten erweitert. So weit zum Ist-Zustand. Ich habe versucht, die Auswirkungen neuer Technologien auf den Einzelnen zu zeigen, also was bewirken AI, Vorratsdatenspeicherung, Biometrik, Drohnen, Staatstrojaner in unser aller Leben denn wirklich. Oder wozu kann das alles führen. Denn das ist wegen der scheinbaren Kompliziertheit der Technik dem Laien nicht klar. Ich kam bei meinen Recherchen dann auch zum idealen Standort für meine Geschichte: England. Das Land ist ein Paradebeispiel für die Entwicklungen, die uns bevorstehen. Scheinbar wohlhabend in den Zentren Londons und einigen Örtchen im Süden, der Norden bis hin zur Verslumung verarmt.


In «RCE» versuchen Nerds, die Menschheit zu retten, aus einem Bunker im Tessin. Also brauchen wir Außenseiter, um die Welt zu retten?


Versuche, etwas zu ändern, gehen oft von kleinen Gruppen aus. Sie werden meistens als Utopisten oder Realitätsferne bezeichnet. Neben meiner Liebe für Minderheiten und Randgruppen habe ich nach einer Machbarkeit der Weltrettung gesucht, die nicht aus Fahrradfahren und der fehlerfreien Verwendung von Pronomen besteht.

Ich suchte eine Möglichkeit der Revolution durch die aikidomässige Umkehr der Mittel, die uns beherrschen: Digitalisierung und Propaganda.So geht eine flotte, gewaltlose Korrektur des Bestehenden.


«GRM» war seismografisch und metaphorisch für vieles, was inzwischen eingetreten ist.

Ja, schade. Wäre ich größenwahnsinnig, könnte ich denken, ich habe eine Gebrauchsanleitung geschrieben. Vieles von dem, das nur eine Beta-Version war, als ich das Buch geschrieben habe, ist unterdessen eingetreten: eine Seuche, der Brexit, Gesetze zur prophylaktischen Strafverfolgung wie unser Gefährder-Gesetz, das Chatdurchsuchungsgesetz – alle WhatsApp-, Signal- und Telegram-Gespräche sind nach Annahme durch die EU per Voreinstellung durchsuchbar. AI entscheidet im Vorfeld über den Wert von Menschenleben bei Triageverfahren, über Kreditwürdigkeit und Wohnungsvergabe, die chinesische Überwachungssoftware wurde bereits in über 60 – auch westliche – Länder verkauft.


Dahinter steckt kein Plan.

Genau. Es ist einfach Wettbewerb. Alles, was man mit Digitalisierung anstellen kann, wird und wurde, um Gewinn zu generieren, emotionslos programmiert. Regierungen waren begeistert, denn es gibt dadurch kaum Grenzen bei der Kontrolle der Bevölkerung. Und vielleicht ist es auch clever, mit Überwachung kommenden Aufständen vorzubeugen. Ich bin immer erstaunt über den Begriff Dystopie im Zusammenhang mit meinen Büchern. Die Verwendung des Wortes zeigt eher die Informationsträgheit von Kritikerinnen und Künstlern.


Offenbar können viele Menschen nicht erkennen, dass es nicht um Dystopie geht, sondern um Realität. Führt das zu Nichthandeln in der Problemsituation?

Dazu habe ich in der Recherche einen schönen Begriff gefunden: «Aufmerksamkeitsdiebstahl». Das ist eigentlich das, was alle App- und Plattformentwickler mit unserem Gehirn anstellen. Universitätsstudien haben belegt, dass es für ein menschliches Gehirn bei all der digitalen Dauerbeanspruchung nicht mehr möglich ist, einen Gedanken zu Ende zu bringen. Und sie kamen zum Schluss, dass die Bekämpfung des Aufmerksamkeitsdiebstahls das vorrangige Problem unserer Zeit ist. Das ist das eine Problem. Das andere ist noch massiver. Wir leben in einem ökonomischen System, das uns in den Untergang treibt.


Gemeint ist der Kapitalismus. Aber was bedeutet es für das darin aufgewachsene Individuum? Dass er nicht doch das beste aller schlechten Systeme ist?

Dass haben wir jedenfalls so gelernt. Und es bedeutet, dass wir mit ein paar grandiosen Lügen aufgewachsen sind. Das unbegrenzte Wachstum, die Vorstellung, dass es jeder schaffen kann, dass der Kapitalismus alternativlos ist, die Regelung durch die Märkte, die Eigenverantwortung. Alle Standardbegriffe aus dem Repertoire der letzten 100 Jahre lassen sich entlarven. Der faire Wettbewerb zum Beispiel endet schon per Geburt mit einer falschen Hautfarbe, in einem armen Elternhaus im falschen Viertel, am falschen Ende der Welt. Die Märkte werden die Menschheit nicht retten, denn dazu ist es, falls der Quatsch eine Substanz hätte, in Sachen Klima zu spät. Wir sehen jetzt deutlich, wie schnell alles, woran wir glaubten, in sich zusammenfällt. Der Ukraine-Krieg lässt uns zu fossilen Brennstoffen und Atomkraft zurückkehren, die dem Klima den Rest geben, die Seuchen enden nicht, die Inflation wächst, die Unruhen dito, die Systeme brechen gerade zusammen.


Die Systeme sind stärker als Menschen, die in ihnen leben. Was kann wie geändert werden?

Die Systeme sind so schwach wie die Menschen, würde ich sagen. Und die realistische Antwort wäre: Wir können nichts mehr ändern. Zum einen, weil es keinen Zusammenhalt der Bevölkerungen mehr gibt. Die Einzelnen sind im Überlebensmodus und versuchen sich zu retten, viele Regierungen agieren hysterisch, Handeln nach Lage oder machen einfach, was sie immer machen, als gäbe es keinen Alarmzustand. Noch alberner, viele Politikerinnen propagieren wieder ein nationalistisches Weltbild, um mit Sentimentalität Wählerinnen- und Wählerstimmen zu sammeln. Aber vielleicht haben sie Recht: Wenn es uns schon kaum gelingt, einen Konsens mit wenigen Menschen zu erzielen, wie soll das global erreicht werden?

Der Einzelne, die Einzelne trennt Müll, der dann im globalen Süden verbrannt wird. Wir kämpfen um den Erhalt von drei alten Bäumen, während in China, um mal nicht immer vom Regenwald zu reden, hektarweise Umwelt vernichtet und verbaut wird. Oder in Deutschland Wälder zum Kohleabbau vernichtet werden, dessen Ende bereits feststand. Worauf also hoffen? Wir tun, was wir zum Durchkommen tun müssen, und das höchste der Gefühle ist, eine Partei zu wählen, die sich dummerweise kaum mehr von den anderen unterscheidet.


Die Figuren Ihrer Bücher weichen alle von der «Norm» ab. Ist die Normierung der Gesellschaft letztlich die Konsequenz des kapitalistischen Systems?

So sehr auch gerade der Begriff Diversität verwendet wird, am Ende streben die meisten nach einer imaginären Normalität, von der sie sich beschützt sehen. Außenseiterinnen und Außenseiter gab es immer. Beliebt waren sie selten. Was die Mehrheiten heute tun, ist einfach Überlebenskampf. Nicht auffallen, fit für den Arbeitsmarkt und den Wettbewerb sein. Oder für den Überlebenskampf – Frauen und Männer müssen heute Muskeln, perfekte Zähne haben, gesund leben, weil man sonst weder auf dem Arbeits- noch dem Sexualmarkt eine Chance hat. Die meisten haben durch gute Propaganda gelernt, dass es Vorteile bringt, sich nicht von der Masse abzuheben. Und die Politik benutzte zu vielen Zeiten Außenseiter, Minderheiten immer wieder, um die Bevölkerungen von eigentlichen Missständen abzulenken, und Schuldige zu benennen: die Juden, die LGTBQ-Menschen, die Schwarzen, die Ausländer usw. Da ist es doch besser, man zeichnet sich durch nichts aus.


In einem freien demokratischen Staat hätte man doch die Mündigkeit, sich von solcher Beeinflussung zu befreien. Es passiert aber nicht. Weshalb?

Wie soll man sich befreien? Und wovon genau? Das ist bei all den Brandherden gerade so schwierig zu verorten. Natürlich könnte der Einzelne sein Natel aus dem Fenster schmeissen, für einen kleinen Anfang, um sich ein wenig aus der Überwachung zu verabschieden, aber der Alltag ohne Benützung eines Endgeräts wird immer schwieriger. Jeder neue Service, jeder Dienst, der digitalissiert wird, ist ein weiterer Pfeiler für die Errichtung der totalen Kontrolle. Und nicht nur das, für unsere Kontrolle übernehmen wir auch gerne noch all die Dienstleistungen, für die wir eigentliche Gebühren entrichten. Diese Abhängigkeit von der Digitalisierung wird einem so perfekt angedient, dass alle mitmachen (müssen), weil man es für Fortschritt hält, und wenn man es ablehnt, ist man kulturpessimistisch und aus der Zeit gefallen. In «GRM» stand jedem Bürger ein Mobilgerät zu, als Grundbedürfnis, wie Wasser oder Wohnen, aber im Gegensatz dazu umsonst, mal sehen wann das eintritt.


Ist denn nicht die Politik der Ort, wo man intervenieren, die Dinge ändern kann?

Wir beobachten gerade, wie urdemokratische Länder die Demokratie mittels demokratischer Prozesse abschaffen. Die USA haben das Recht auf Abtreibung aus dem Grundgesetz gekippt, demokratisch gewählte Präsidentinnen bauen illiberale, fast autokratische Demokratien. Das ist die Politik, die wir gerade auch in vielen europäischen Ländern beobachten. Die Demokratie in der Schweiz ist ein Traum dagegen. Doch auch bei uns bestimmen oft finanzielle Mittel über den Erfolg von Volksreferenden, versuchen neoliberale Kräfte immer wieder, die Funktionen des Staates und Bildung, Soziales und Kultur zu schwächen. Sich aktiv in die Realpolitik einzubringen, braucht viel Geduld und Zeit. Wer hat die noch, in Zeiten der Dauerermattung?


Also bleiben, wie in Ihrem Buch, nur Guerillafraktionen, die die Welt retten?

Das war ein schwieriger Punkt, der im Buch auch behandelt wird. Wem steht es denn eigentlich zu, zu sagen, dass man sich im Zuge der Weltrettung über angenommene Mehrheitsmeinungen hinwegsetzt? Vielleicht ist es der demokratische Mehrheitswunsch, das Ende der Spezies voranzutreiben. Die historische Realitätsüberprüfung zeigt: Die wenigsten Revolutionen haben auf Dauer wirklich eine nachhaltige Verbesserung der Lebensumstände für alle gebracht. Oft wurde danach weiter Macht missbraucht, einfach von anderen Menschen. Denn nach dem großen Schwung der selig machenden kurzen Einheit machen Menschen, was sie immer machen: Sie werden gierig, Vielleicht überlässt man also die Weltrettung der AI. Die so neutral ist wie die Programmierer, die sie geschaffen haben,


Sie möchten mit Ihrer Literatur etwas ändern, etwas anbieten.

So größenwahnsinnig bin ich nicht. Es geht eher darum, dass ich für mich etwas herausfinden wollte, das mir theoretisch aus meiner Ohnmacht hilft. Ich wollte begreifen was genau schiefläuft, und ob es Fehler gibt, die ich theoretisch revidieren kann. Ich habe, um es abzukürzen, wieder sehr viel von Expertinnen und Wissenschaftlerinnen gelernt, hatte kurzfristig sehr gute Laune, im letzten Drittel des Buches, als wirklich der Plan, den ich konstruiert hatte, aufging, habe ich sogar wieder einmal gelacht. Bis mir klar wurde, dass es nicht mehr als eine lustige Utopie ist, was ich da über zwei Jahre erfunden habe. Also keine Sorge: Unsere Welt wird sich alleine mit der Kraft der Märkte heilen, aber so lange haben die Leserinnen ein unterhaltsames Buch für den Sommerurlaub. Und, wie mir viele berichteten, die das Buch bereits gelesen haben, verdammt gute Laune. Für einige Zeit.


Am Schluss des Buches gibt es ein sehr umfangreiches Glossar – nötig für das Verständnis?

Eine Serviceleistung. Ein Gute-Laune-Buch mit Lerneffekt, denn wenn man es vorher nicht konnte, kann man nun ein bisschen mit Fachwissen bluffen: Ja ja, es braucht einfach peer-to-peer Chats und so weiter.


Das Buch ist aber sicher auch eine Anleitung zum Verständnis, in welcher Welt wir leben. Da kann man ja nicht sagen, dass die Kunst nichts bringt und nichts ändern kann.

Ja, aber was soll ein Buch denn ausrichten? Das ist zum einen nur ein Beruf, und zum anderen weiss ich gar nicht, wie man leben kann und nicht irgendwie daran glauben könnte, kurzfristig die Welt zu retten. Für den kurzen Moment eines Buches oder eines Theaterstücks muss man das schon glauben, sonst wird es entweder Kitsch oder eine Naturbeschreibung.


Und wie geht es nun weiter: Was folgt im letzten Band?

Das grosse Finale!

Foto:
Mit Recherche-Literatur wühlt Sibylle Berg auf.

Info:
“RCE #RemoteCodeExecution“ von Sibylle Berg, erschienen bei Kiwi 2022, Köln.