Shortlist DBP22 2 vntr.mediaZu den letzten sechs Nominierten, der kurzen Liste zum Deutschen Buchpreis, Teil 5

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Sündenfall bezieht sich auf unsere Redaktion. Der Sündenfall der Jury zum Deutschen Buchpreis ist inzwischen Normalfall im Betrieb geworden. Seit Eva Menasses DUNKELBLUM 2021 von der damaligen Jury überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurde, obwohl dieser Roman ein Geniestreich ist, kann man über die Auswahlen sowieso nur noch den Kopf schütteln. Dies ist nur ein Beispiel, allerdings ein besonders deutliches.

Der Sündenfall der Redaktion bezieht sich auf unsere Praxis, seit Jahr und Tag alle zwanzig Romane der Langen Liste in Einzelbesprechungen unter die Leser und Leserinnen zu bringen, in denen durchaus deutliche Worte zur Qualität der Romane fielen. Wir gaben auch Einschätzungen, wer unserer Meinung nach zu den Favoriten gehört oder wer den Preis bekommen sollte. Hin und wieder trafen sich unsere Einschätzungen und die der Jury, meistens nicht. Die diesjährige Auswahl der Zwanzig hat uns so wenig inspiriert, daß wir erst bei der Kurzen Liste mit den Besprechungen einsetzen. Dies allerdings wollen wir leisten. 

Am vergangenen Dienstag hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Träger des Buchpreises, die Endauswahl der sechs Romane bekanntgegeben. Anders als sonst, ist diese in den Feuilletons kaum kommentiert worden, sondern nur als Information bekanntgegeben worden. Woran das liegt, daß zu den Auswahlen fast keine Diskussionen mehr stattfinden? Sicher zum einen an der Fülle der Romane von zum Teil wenig bekannten Autoren und Autorinnen, so daß man sich gar nicht mehr sicher sein kann in seinem Urteil, anders, als wenn es um länger bekannte Schriftsteller geht, die man einschätzen kann oder glaubt, aus ihren bisherigen Büchern auf das neue schließen zu können. Dem allgemeinen Schweigen schließen wir uns also an und geben die Meldung des Börsenvereins weiter: 

Deutscher Buchpreis 2022: Sechs Romane im Finale

Die Jury hat diese sechs Romane für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022 ausgewählt:

Fatma Aydemir: Dschinns (Carl Hanser, Februar 2022)
Kristine Bilkau: Nebenan (Luchterhand, März 2022)
Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter (Kiepenheuer & Witsch, August 2022)
Jan Faktor: Trottel (Kiepenheuer & Witsch, September 2022)
Kim de l’Horizon: Blutbuch (DuMont, Juli 2022)
Eckhart Nickel: Spitzweg (Piper, April 2022)

Jurysprecherin Miriam Zeh, Deutschlandfunk Kultur: „Ein Roman gibt sich eigene Gesetze und steht doch unweigerlich in Kontakt zur Gegenwart, in der er geschrieben und gelesen wird. Alle sechs Titel der Shortlist 2022 konnten uns in ihrer ästhetischen Eigenheit überzeugen. Mit sprachlicher Brillanz und formaler Innovationskraft beschreiben sie soziale Realitäten und Phantasmen, vermessen Mitte und Ränder, umkreisen Trauer und Komik. Damit bilden die nominierten Autor*innen die thematische wie stilistische Vielfalt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ab. Gemeinsam ist ihnen: eine künstlerische Unbedingtheit. Mit ihren Büchern beziehen sie Position, zeigen sich streitbar und zugleich offen für den Dialog. So laden wir mit der Lektüre dieser Shortlist auch ein, in einen Austausch zu treten und den eigenen Blick auf die Welt neu zu justieren.“

Schon zuvor war bekannt, daß die siebenköpfige Jury aus folgenden Personen besteht:
Miriam Zeh, Deutschlandfunk Kultur und Jurysprecherin 
Erich Klein, freier Kritiker, Wien
Frank Menden, stories! Die Buchhandlung, Hamburg
Uli Ormanns, Agnes Buchhandlung, Köln
Isabelle Vonlanthen, Literaturhaus Zürich
Selma Wels, Kuratorin und Moderatorin, Frankfurt
Jan Wiele, Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Es ist ein guter Brauch, daß in der Jury auch Platz für Österreich und die Schweiz ist, denn anders als die nachgezogenen nationalen Buchrpreise in beiden Ländern, bleibt der deutsche Buchpreis der offenste, weil er allein jedes neu original auf Deutsch erschienenes Buch zuläßt, unabhängig vom nationalen Status der Autoren. Daß die Sieben seit dem Ausschreibungsbeginn 233 Titel aufgenommen hatten, die zwischen Oktober 2021 und dem 20. September erschienen sind, ist ebenfalls bekannt. Aber da über die Sechserauswahl kaum Inhaltliches kommt, fehlen auch die Kommentierungen zum Erscheinungsdatum der Ausgewählten. Man muß den Verlagen einfach abraten, Romane zur Buchmesse oder zu Weihnachten herauszubringen! Denn erneut findet sich in der finalen Liste kein Roman, der im 4/2021 erschienen ist. Und erneut gibt es eine Überzahl für die Monate Juli, August, September, also die gerade erschienenen Romane. Also Oktober, November, Dezember 2021 sind obsolet, aber auch der Januar 2022 scheint als Erscheinungsdatum nicht günstig, aber immerhin bleiben für das Quartal 1/2022 zwei Bücher. Für 2/2022 nur ein im April erschienener Roman, drei dann, also die Hälfte der für den Preis in Frage kommenden in  3/2022. Das müssen sich Verlage merken!

Zur Auswahl fällt auf, daß, obwohl auf der Zwanzigerliste immerhin drei Romane aus Österreich dabei waren, diesmal keiner ins Finale kam. Marie Gamillscheg, Reinhard Kaiser-Mühlecker und Anna Kim sind nicht mehr im Rennen. Ein Aus bedeutet das erst einmal nur für Marie Gamillscheg, denn Reinhard Kaiser-Mühlecker und Anna Kim stehen auch auf der langen Liste des Österreichischen Buchpreises 2022. Freuen darf sich der Dumont Verlag, denn seine Autorin Kim de l‘Horizon steht mit  «Blutbuch» auf der Deutschen und der Schweizer Liste. 

Eine Frage gilt natürlich auch immer dem Geschlechterverhältnis bei den Auswahlen. Aber nicht nur bei den Lesern überwiegen die Leserinnen, auch in den meisten Jurys und den meisten Auswahlen sind meist Frauen vorne. Hier ist es pari. Aber ein Wort muß zu den Verlagen fallen! Daß mal Suhrkamp, Rowohlt und Fischer nicht dabei sind, kann man verkraften, aber interessant ist es schon. Somit auch, daß Kiepenheuer&Witsch ihren Lektoren danken muß, die gleich zwei Romane auf die Liste brachten. Die anderen vier sind allesamt arrivierte Verlage. Und genau darin liegt das Problem. Kleine Verlage und die Vielzahl von ganz kleinen kommen gar nicht mehr vor. Darin lag eigentlich der Charme der Buchpreisauswahlen, daß auf diesem Wege auch Unbekannterem der Weg geebnet wurde. Schade. Schade eben auch, daß es nur deutsche Verlage sind, denn in der Vergangenheit waren auch österreichische und selten schweizerische Verlage dabei.

Zur Letztauswahl könnten wir bisher nur Beschreibungen anderer über den Inhalt der Romane weitergeben. Deshalb folgend demnächst unsere eigenen Besprechungen. Die erste anbei.

Foto:
Auswahl
©vntr.media

Info:
Aus der Pressemitteilung:
Mit dem Deutschen Buchpreis 2022 zeichnet die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels den deutschsprachigen Roman des Jahres aus. Der oder die Preisträger*in erhält ein Preisgeld von 25.000 Euro; die fünf Finalist*innen erhalten jeweils 2.500 Euro. Die Preisverleihung findet am 17. Oktober 2022 zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse im Kaisersaal des Frankfurter Römers statt und wird live übertragen. Interessierte können die Preisverleihung unter www.deutscher-buchpreis.de verfolgen.

Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur übertragen die Veranstaltung live über den Sonderkanal „Dokumente und Debatten“ im Digitalradio und als Livestream auf Dokumente und Debatten | deutschlandradio.de.

Hauptförderer des Deutschen Buchpreises ist die Deutsche Bank Stiftung, weitere Partner sind die Frankfurter Buchmesse und die Stadt Frankfurt am Main. Die Deutsche Welle unterstützt den Deutschen Buchpreis bei der Medienarbeit im In- und Ausland.

Ab 4. Oktober 2022 werden Auszüge aus den Shortlist-Titeln in englischer Übersetzung und ein englischsprachiges Dossier zur Shortlist auf dem Internetportal www.new-books-in-german.com präsentiert.

Auf der Webseite und den Social-Media-Kanälen des Deutschen Buchpreises vermitteln Videoporträts einen Eindruck von den nominierten Werken und ihren Autor*innen.

Der Hashtag zum Deutschen Buchpreis lautet: #dbp22





Chancen auf den mit 25.000 Euro dotierten Preis, der am 17. Oktober vergeben wird, haben Fatma Aydemir ("Dschinns"), Kristine Bilkau ("Nebenan"), Daniela Dröscher ("Lügen über meine Mutter"), Jan Faktor ("Trottel"), Kim de l'Horizon ("Blutbuch") und Eckhart Nickel ("Spitzweg"). Marie Gamillscheg, Reinhard Kaiser-Mühlecker und Anna Kim sind nicht mehr im Rennen.Fatma Aydemir erzählt in "Dschinns" (Hanser) von einer Gastarbeiterfamilie. Der Vater hat sich buchstäblich zu Tode geschuftet, die Verwandten reisen zur Beerdigung an. Die 1986 in Karlsruhe geborene Autorin lässt die Familienmitglieder abwechselnd zu Wort kommen. So unterschiedlich ihre Ansichten sind: Sie eint das Gefühl der Heimatlosigkeit. Aydemir lüftet die Geheimnisse der Familie "präzise und einfühlsam", wie die Jury findet. Das Buch behandele einen Teil der jüngeren deutschen Geschichte, "der bisher kaum in der Literatur zu finden ist".

"Nebenan" von Kristine Bilkau (Luchterhand) dreht sich um das Schicksal zweier Frauen in der norddeutschen Provinz. Die eine führt eine liebevolle Partnerschaft, leidet aber unter ihrem unerfüllten Kinderwunsch. Die andere, Mutter dreier Söhne, will sich aus dem Berufsleben zurückziehen. "Meisterhaft" findet die Jury den "subtil erzählten" Roman der Hamburger Autorin. Sie zeige, "welche Abgründe in einem scheinbar alltäglichen Leben lauern". Die Stärke des Buchs liege "in den Details und den kleinen Kippmomenten".

Bröckelnde Fassade

Auch in Daniela Dröschers "Lügen über meine Mutter" (Kiepenheuer & Witsch) geht es um eine Frau. Das Buch der 1977 in Rheinland-Pfalz geborenen Autorin spielt im Hunsrück Mitte der 1980er Jahre. Aus der Kinderperspektive erzählt die Autorin von der vom Leben enttäuschten Tochter schlesischer Flüchtlinge. Die Fassade der kleinbürgerlichen Aufsteigerfamilie zerfällt endgültig, als die Mutter ihr Erbe verschleudert und den Ehemann aussperrt. Eine "literarische Mikrosoziologie" nennt die Jury das Buch. Der Text werde immer wieder "von essayistischen Einschüben" unterbrochen.

Jan Faktor beschreibt in "Trottel" (Kiepenheuer & Witsch) den Weg eines Außenseiters von Prag nach Berlin, vom Arbeitnehmer im realexistierenden Sozialismus zum Schriftsteller - biografische Parallelen nicht ausgeschlossen. Der Autor wurde 1951 in Prag geboren und übersiedelte 1978 in die DDR, wo er als Kindergärtner und Schlosser arbeitete. Im Kern des Romans steht der Verlust eines Sohnes. Der Roman "verbindet Zeitgeschichte und Lebensgeschichte auf sehr besondere Weise", findet die Jury. "Faktor gelingt das große Kunststück, mit einer Geschichte über Trauer Witz zu erzeugen." Das Buch sei "ein provokanter, bisweilen verstörender Schelmenroman".

In Eckhart Nickels "Spitzweg" (Piper) wird ein Kunstbanause zum glühenden Verehrer des titelgebenden Malers. Der 1966 in Frankfurt am Main geborene Autor erzählt von einer Schülerfreundschaft, einer Dreiecksbeziehung und einem Gemäldediebstahl. "Ein großes intelligentes Lesevergnügen", findet die Jury, "eine meisterhafte Reflexion über die Beziehung von Kunst und Leben". Das Buch spiele mit übertriebener Gelehrsamkeit, verschachtelten Sätzen und einem antiquierten Vokabular. Trotz aller philosophischen Tiefe sei der Roman temporeich und komödiantisch.

"Ästhetische Eigenheit"

Kim de l'Horizon, 1992 bei Bern geboren, identifiziert sich als nicht-binär. Auch die Hauptfigur des Romans "Blutbuch" (Dumont) heißt Kim und fühlt sich weder ausschließlich männlich noch weiblich. Als die Großmutter ihre Dominanz an die Demenz verliert, beginnt Kim eine eigene Sprache zu bilden. "Da es in diesem Gemenge keinen geraden Weg gibt, kann die Form des Romans nicht linear sein", konstatiert die Jury. Mal sei die Sprache experimentell und gewagt, mal derb und obszön, mal zart und intensiv: "Ein Roman, der berührt und bewegt."

"Alle sechs Titel der Shortlist 2022 konnten uns in ihrer ästhetischen Eigenheit überzeugen. Mit sprachlicher Brillanz und formaler Innovationskraft beschreiben sie soziale Realitäten und Phantasmen, vermessen Mitte und Ränder, umkreisen Trauer und Komik. Damit bilden die nominierten Autor*innen die thematische wie stilistische Vielfalt der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ab. Gemeinsam ist ihnen: eine künstlerische Unbedingtheit. Mit ihren Büchern beziehen sie Position, zeigen sich streitbar und zugleich offen für den Dialog", ließ Jurysprecherin Miriam Zeh am Dienstag in einem Statement wissen. "So laden wir mit der Lektüre dieser Shortlist auch ein, in einen Austausch zu treten und den eigenen Blick auf die Welt neu zu justieren." Aus Österreich ist heuer der freie Kritiker Erich Klein in der siebenköpfigen Jury dabei.

Nicht mehr auf der Shortlist sind auch prominente Autorinnen und Autoren wie Esther Kinsky ("Rombo"), Dagmar Leupold ("Dagegen die Elefanten!"), Theresia Enzensberger ("Auf See") oder Heinz Strunk ("Ein Sommer in Niendorf"). Anna Kim ("Geschichte eines Kindes") und Reinhard Kaiser-Mühlecker (Wilderer") haben noch Chancen auf den Österreichischen Buchpreis, dessen Shortlist am 11. Oktober verkündet wird, Kaiser-Mühlecker ist zudem noch für den Bayrischen Buchpreis im Rennen.

124 Verlage haben 202 Romane eingereicht

Die Autorinnen und Autoren der Shortlist haben 2.500 Euro bereits sicher und müssen beim Finale zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse im Frankfurter Römer live zittern, für welchen Titel sich die Jury letzten Endes entschieden hat. 2021 ging der Deutsche Buchpreis an Antje Rávik Strubel für "Blaue Frau".

Heuer hatten 124 Verlage insgesamt 202 Romane eingereicht, der dritte Höchstwert in Folge. 83 Verlage stammen aus Deutschland, 22 aus der Schweiz, 19 aus Österreich und einer aus Luxemburg. Dadurch, dass auch die Jury selbsttätig Bücher in die Auswahl einbeziehen kann, wurden seit Ausschreibungsbeginn 233 Titel gesichtet, die zwischen Oktober 2021 und dem 20. September 2022 erschienen sind oder noch erscheinen. (apa/dpa)

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