Österreichischer Buchpreis 2022: Die kurze Liste ist da! Ihre Autoren und Autorinnen
Anna von Stillmark
Wien (Weltexpresso) - Es ist jedesmal spannend, wer es denn nun bis hierher geschafft hat, schließlich ist die kurze Liste die Voraussetzung, den Österreichischen Buchpreis erringen zu können. An der langen Liste war auffällig, daß kaum Entsprechungen mit dem Deutschen oder Schweizer Buchpreis vorhanden waren und wie häufig bundesdeutsche Verlage die ausgewählten Werke herausgegeben hatten. Genau das setzt sich auch jetzt fort:
Helena Adler - Fretten (Jung und Jung Verlag)
Reinhard Kaiser-Mühlecker - Wilderer (S. Fischer Verlag)
Anna Kim - Geschichte eines Kindes (Suhrkamp Verlag)
Robert Menasse - Die Erweiterung (Suhrkamp Verlag)
Verena Roßbacher - Mon Chéri und unsere demolierten Seelen (Verlag Kiepenheuer & Witsch))
Diese fünf Titel hat die Jury für den Österreichischen Buchpreis 2022 nominiert, nachdem sie 133 belletristische, essayistische, lyrische und dramatische Werke gesichtetnhatte, die zwischen dem 8. Oktober 2021 und dem 11. Oktober 2022 erschienen sind.
Die Jury-Begründungen
Helena Adler
Fretten
August 2022, 192 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-99065-057-8
Die Jury: „Die Ich-Erzählerin in Helena Adlers Roman „Fretten“ leidet an „Herkunftshader“ – und an der österreichischen Provinz, wo die Leichen des Ungesagten nicht im Keller liegen, sondern sich in der Stube stapeln. Es handelt sich dabei um eine Welt des Verschweigens und der Unschärfe, in der Trugbilder, Selbstlüge und Erinnerung ineinander verschwimmen. Zugleich aber ist es auch eine an ihrer Oberfläche scharf konturierte Welt, die sehr genau zwischen Dazugehörigen und „Unverwandten“ zu trennen weiß. Dagegen rennt Helena Adlers Erzählerin an, mit Unangepasstheit und vor allem mit Worten. „Fretten“ handelt vom ländlich Schönen der Kindheit, von jugendlichem Aufbegehren, Alternativlosigkeit, die sich in Gewalt entlädt, ebenso wie von Mutterschaft. Der Roman spielt mit den Elementen dessen, was seit Thomas Bernhard, Franz Innerhofer und Elfriede Jelinek als „Anti-Heimatliteratur“ gilt. Doch Helena Adler will die „Heimat“ und die Auswirkungen, die sie auf ihre Bewohner oder Insassen hat, nicht nur anklagen oder aufzeigen, sie will sie durch eine Überfülle von Sprache und Bildern neutralisieren. Besseres kann man von Literatur nicht erwarten, zumal dieser virtuose Roman nicht nur Risse in die Mauern des Schweigens sprengt, sondern weit über die vermeintliche Provinz hinausgeht, indem er von Randständigkeit, unstillbarem Verlangen und einem Schmerz erzählt, der sich der Gewöhnung verweigert.“
Verlag Jung und Jung
Reinhard Kaiser-Mühlecker
Wilderer
März 2022, 352 Seiten, 24,70 Euro, ISBN 978-3-10-397104-0
Die Jury: „Oberflächliche Effekte sind Reinhard Kaiser-Mühleckers Sache nicht, vielmehr interessieren ihn Tiefenstrukturen und Atmosphäre. Obwohl noch jung an Jahren verfügt dieser 1982 in Oberösterreich geborene Schriftsteller mit mehr als einem halben Dutzend Romanen und einem Erzählband bereits über ein umfangreiches Werk, das Motive wie existenzielle Verlorenheit, fragile Zweisamkeit von Frau und Mann sowie das Schweigen über die Vergangenheit grundieren. Ort der Handlung ist oft das bäuerliche Umfeld, aus dem Kaiser-Mühlecker stammt. Es wird allerdings nicht als antiurbane Idylle beschworen, auch nicht als Unort verdammt, sondern als Bestandteil einer sich auch ökologisch im Umbruch befindenden Kulturlandschaft und Gesellschaft gezeigt. Das ist auch in „Wildern“, seinem achten Roman, nicht anders, der aus der Er-Perspektive vom Jungbauern Jakob erzählt. Dieser Jakob ist ein Befremdeter, vielleicht auch ein Lebensfremder, der den heruntergewirtschafteten Hof vom Vater übernimmt und ihn mit seiner Frau Katja auf Vordermann bringt. Ein Kind wird geboren, Erfolg stellt sich ein. Alles sieht bestens aus und ist doch zum Zerbrechen verurteilt. Das „Warum“ ist in diesem Roman, der um einen dunklen Kern kreist, wichtig, noch überzeugender ist, wie Reinhard Kaiser-Mühlecker erzählt und in ruhigem Ton ein komplexes Netz abgründiger Handlungsfäden auswirft, dem man sich nicht entziehen kann.“
S. Fischer Verlag
Anna Kim
Geschichte eines Kindes
August 2022, 220 Seiten, 23,70 Euro, ISBN 978-3-518-43056-9
Die Jury: „Anna Kims „Geschichte eines Kindes“ ist eine eindringliche literarische Auseinandersetzung mit den Themen Rassismus, Herkunft und Zugehörigkeit sowie den damit verbundenen Vorurteilen. Der spannungsreich aufgebaute Roman basiert auf zwei Erzählsträngen. Zum einen handelt er von einem USA-Aufenthalt einer österreichischen Schriftstellerin im Jahr 2013. Zum anderen wird ausführlich aus den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay aus den Jahren 1953 bis 1959 zitiert, in denen es um ein uneheliches Kind und den hindernisreichen Weg bis zu seiner Adoption geht. Was diesen Prozess so kompliziert macht, ist der Verdacht, dass das Kind einen schwarzen Vater hat – in einer homogen weißen Umgebung wird das als Skandal betrachtet. Kim hat diesen Erzählstrang auf tatsächlichem Aktenmaterial aufgebaut und die ausführlichen Zitate daraus machen auf eindrucksvolle Weise den obsessiv rassistischen Blick der zuständigen Behörden deutlich, denen es um die Vermessung aller körperlichen Details des Kindes geht, als ob das etwas über seinen Charakter und sein Wesen aussagen würde. Der Roman macht den Trugschluss, von äußerlichen Merkmalen auf Zugehörigkeit und Identität zu schließen, aber auch in der gegenwärtigen Gesellschaft sichtbar. So schafft es die Autorin, ein aktuelles Thema nicht nur mit historischer Tiefenschärfe zu behandeln, sondern es auch in eine überzeugende erzählerische Form zu bringen.“
Suhrkamp Verlag
Robert Menasse
Die Erweiterung
Oktober 2022, 653 Seiten, 26,80 Euro, ISBN 978-3-518-43080-4
Die Jury: „Die EU gilt als schwervermittelbar. Eine Institution ohne Glamour, dafür mit Demokratiedefizit, wie es oft kritisch heißt. Und überhaupt lässt sich schwer sagen, wer genau eigentlich das Gesicht der EU sei. Das hat Robert Menasse schon in seinem ersten von drei geplanten EU-Romanen umgetrieben. In „Die Hauptstadt“ ging es um das irrwitzige Vorhaben, aus dem polnischen Auschwitz die politische und symbolische Mitte Europas zu machen. In „Die Erweiterung“ nun wird ein zweites heißen Eisen angefasst: das der EU-Beitrittskandidaten. Ausgerechnet Albanien soll den Mitgliederstatus erhalten. Naturgemäß hat das Projekt in der EU mehr Feinde als Freunde. Und Robert Menasse wäre nicht Robert Menasse, würde er diese politische Abenteuergeschichte nicht mit einem ebenso packenden wie witzigen Plot auskleiden. Ein Nationalheiligtum wird gestohlen. Zwei alte Solidarność-Kämpfer bekriegen sich. Und ein österreichischer EU-Beamter verliebt sich heillos in seine albanische Kollegin. „Die Erweiterung“ ist ein furioser zweiter Roman über die ach so langweilige EU. Furios, weil Robert Menasse eine europäische Liebesgeschichte erzählt, eine absurde Kriminalgeschichte in ihr entrollt und zudem allerhand gewieftes Politpersonal auftreten lässt. Nach dieser Lektüre kann keiner mehr behaupten, die EU habe kein Gesicht.“
Suhrkamp Verlag
Verena Roßbacher
Mon Chéri und unsere demolierten Seelen
März 2022, 512 Seiten, 24,70 Euro, ISBN 978-3-462-00119-8
Die Jury: „Charly Benz: Anfang vierzig, Langzeitsingle, ernährt sich von Fertiggerichten, raucht Kette, hört in ihrer Freizeit Bibi Blocksberg Hörspiele und öffnet aus Angst vor schlechten Nachrichten ihre Post nicht. „Ja, das war das Problem, ich musste immer alles alleine machen, Essen kochen und Musik machen, mich vor meiner Post fürchten, einfach alles. Ich seufzte. So wie es aussah, würde ich auch meine Kinder in Eigenregie zeugen müssen, sollte ich je welche haben wollen. Ich musste mir eingestehen: Die Zeit arbeitete gegen mich.“ Das also ist die Romanheldin! Eine desolat-komische Frauenfigur und damit literaturgeschichtlich eine Rarität. Denn komische Frauen haben es schwer bei der Leserschaft. Verena Roßbacher ist es gelungen, mit ihrer Charly Benz nicht nur eine Figur zu schaffen, die man nie mehr vergisst. Sie gesteht ihr auch eine geradezu unglaubliche Persönlichkeitsentwicklung zu. Aus der schrulligen Außenseiterin mit einem Faible für Werbeclips aus den neunziger Jahren (Mon Chéri!) wird im Verlauf dieses rasant lustigen Romans eine Vorreiterin alternativer Lebens- und Liebesmodelle. Nicht nur gibt es auf einmal drei potenzielle Väter für ein Baby. Auch wird ein schwerkranker Mann angstfrei in den Tod begleitet. „Mon Chéri und unsere demolierte Seelen“ erzählt eine Geschichte vom Loslassen. Zwischendrin gibt es Slapstick vom Feinsten. Lustige Frauen, das lernen wir mit Verena Roßbacher, sind einfach unwiderstehlich!“
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Stimmen zur Auswahl
Andrea Mayer, Staatssekretärin für Kunst und Kultur: „Mit diesem Wettbewerb wird die zeitgenössische österreichische Gegenwartsliteratur in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Medien und des Lesepublikums gestellt. Fünf außergewöhnliche Romane unterschiedlichster Klangfarbe stehen im Finale um den Österreichischen Buchpreis und symbolisch für die immer wieder überraschende Diversität der aktuellen Literatur. Herzliche Gratulation allen Autorinnen und Autoren für die Nominierung, die hoffentlich für große Resonanz sorgt!“
Benedikt Föger, Präsident des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels: „Die fünf Titel der diesjährigen Shortlist des Österreichischen Buchpreises sind ein eindrucksvolles Stimmungsbild der aktuellen österreichischen Literatur. Die Jury hat sich auf fünf herausragende Bücher geeinigt, die die Qualität und Vielfalt der heimischen Literaturlandschaft in den Fokus rücken. Jedes der nominierten Bücher ist eine unbedingte Leseempfehlung und wir erwarten mit Spannung die Entscheidung der Jury.“
AK Präsidentin Renate Anderl: „Es zählt zu den Aufgaben der Arbeiterkammer, neben sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen auch die kulturellen Interessen unserer Mitglieder zu vertreten. Dazu zählt für mich die Förderung von Künstlerinnen und Künstlern. Die heimische Buchszene ist lebendig und breit – der Österreichische Buchpreis macht das sehr gut sichtbar. Wir unterstützen die angehenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller sehr gerne und wollen damit deren Werk auch für unsere Mitglieder sichtbar machen.“
Die Jury
Die Jury für den Österreichischen Buchpreis setzt sich 2022 aus Bernhard Bastien (Buchhändler, Buchhandlung Lerchenfeld), Edith-Ulla Gasser (Redakteurin, Ö1), Stefan Gmünder (Literaturkritiker, Der Standard und Volltext), Katharina Teutsch (Literaturkritikerin, FAZ) und Günther Stocker (Literaturwissenschaftler, Universität Wien) zusammen.
Preisverleihung im Rahmen der Buch Wien 22 am 21. November
Erst am Abend der Preisverleihung am 21. November 2022 erfahren die fünf Autor:innen der Shortlist sowie die drei Autor:innen der Debütpreis-Shortlist, wem der Österreichische Buchpreis und der Debütpreis zuerkannt werden. Die Preisträgerin bzw. der Preisträger erhält 20.000 Euro; die vier anderen Finalist:innen jeweils 2.500 Euro. Der Debütpreis ist mit 10.000 Euro dotiert, die beiden weiteren Debütpreis-Finalist:innen bekommen ebenfalls 2.500 Euro.
Der Österreichische Buchpreis wird vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS), dem Hauptverband des Österreichischen Buchhandels und der Arbeiterkammer Wien ausgerichtet.
Lesung: Shortlist Debüt
Am Donnerstag, den 3. November, um 19 Uhr lesen die drei Autorinnen der Shortlist Debüt in der Bibliothek der AK Wien, Anmeldungen bitte unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!. Die Veranstaltung wird außerdem als Live-Stream auf der Website sowie dem Facebook-Kanal der AK Bibliothek übertragen und steht im Anschluss dauerhaft zum Nachsehen zur Verfügung: Website der AK Wien und Facebook AK Wien.
Fotos:
©Österreichischer Hauptverband