dio170 Jahre Diogenes am Donnerstag, 20. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse im Frankfurt Pavilion (Agora), Teil 1/2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Auch im Nachhinein war dies eine der beglückendsten Veranstaltungen auf der Buchmesse, wozu der an diesem Tag glänzend aufgelegten Denis Scheck als Moderator beitrug, den zum hellen Vergnügen nur eine Person sprachlos machte, als nämlich die Kultkrimiautorin Ingrid Noll auf seine etwas selbstgefällig Frage erwiderte: „...“, aber dies kam erst im zweiten Teil der Veranstaltung, als die Diogenesautoren auf dem Podium wechselten, weshalb dies erst im zweiten Artikel folgt.

Jetzt ging es auf dem Podium - Bild oben - erst einmal um die Spanierin Irene Vallejo, die ganz rechts saß, die mit ihrem Roman PAPYRUS. Die Geschichte der Welt in Büchern einen diogruWelterfolg landete, daneben saß ein besonders beliebter Diogenesautor: Andrej Kurkow, der als in Petersburg geborener Russe sein Leben lang in Kiew lebt und gegen Putins Krieg ankämpft. Mit SAMSON UND NADJESCHDA hat er gerade einen historischen Kriminalroman vorgelegt, Auftakt einer Serie, von WELTEXPRESSO auch schon besprochen.
https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26222-samson-und-nadjeschda-von-andrej-kurkow-auf-platz-5
Zwischen ihm und dem Verleger sitzt Shelly Kupferberg, im Kulturbereich unterwegs, die über ihren Onkel ISIDOR. Ein jüdisches Leben schrieb und sich zufrieden zeigte, als Autorin bei Diogenes nun einmal auf der anderen Seite zu sitzen. Das war metaphorisch, aber hier sitzt im Bild links von Philipp Keel die in deutscher Übersetzung besonders erfolgreiche Donna Leon, deren Commissario Brunetti fast jeder kennt. Und neben ihr Moderator Dennis Scheck.

Bei dieser Buchmesse mit dem Länderschwerpunkt Spanien kam der große literarische Erfolg von Irene Vallejo mit PAPYROS gerade recht. Sie war auch im Gastpavillon die führende Repräsentantin und erläuterte die historische Figur von Alexander dem Großen, mit dem ihr Buch beginnt und den sie gewissermaßen als Urvater des heutigen Europas ansieht. Das war ein kurzer Rundumschlag, mit dem Denis Scheck erst einmal alle zum Reden bringen wollte. Das war bei Shelly Kupferberg und dem Verleger kein Problem und Andrej Kurkow, der die weiteste Anreise aus Kiew hatte und derzeit mit Preisen überhäuft wird, konnte nur von seinen gemischten Gefühlen sprechen, wenn er hier sitzt und zu Hause Krieg ist. Er spricht derzeit kaum über seine Bücher, sondern über die Situation in der Ukraine, wo gerade einen Kilometer vor seiner Haustüre eine Rakete eingeschlagen hatte.

Im zweiten Durchgang erzählte er dann, wie er überraschend eine Kiste mit Originaldokumenten, bolschewistische Geheimdienstkaten, Originale, aber auch Unterwäsche erhielt, die alle aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stammen. Das hat ihn fasziniert und fragen lassen, wie war das damals, als in Kiew alles zusammenkam: das alte Zarenreich, der neue Kommunismus und die ukrainischen Separatisten. Er wollte und will über das Leben in extremen Situationen schreiben. Die Form der Krimis bieten sich da an.

„Die Dichter bauen Luftschlösser, die Leser bewohnen sie, und die Verleger kassieren die Miete.“, dieses schöne Zitat von Maxim Gorki zeigt den Schelm, der Kurkow auch ist, was sich auf seinen neuen Helden Samson überträgt.

diogruppeInteressant waren die Aussagen des Verlegers, der das Werk seines Vaters fortsetzt: 70 Jahre sind ja nicht ohne und deshalb will er als größten Erfolg feiern, „daß wir hier sitzen und daß es diesen Verlag noch gibt!“ Wie Autoren von ihm gefunden, andererseits er von solchen gefunden wurde, ist das eine, aber immer wieder, das war ihm wichtig, habe er von seinen Autoren andere Autoren empfohlen, bzw. vermittelt bekommen. Das sei ein gutes Geschäftsmodell. Die Frage von Scheck, ob er denn vor 10 Jahren, als er den Verlag von seinem Vater übernommen hatte, gezögert habe, bejahte er eindeutig, aber er habe dann gedacht, wie es denn Ingrid Noll, Benedict Wells, Donna Leon und Andrej Kurkow fänden, wenn...

Auf weitere Fragen nach seiner größten Niederlage und seinem größten Triumph wiederholte er: „Daß wir immer noch hier sind!“. Die Autoren wiederum zeigten sich stolz, Teil der Diogenes Familie zu sein. Nach der kurzen Vorstellungsrunde, in der sich Donna Leon als Schweizerin mit Schweizer Wohnort outete, wo wir die US-Amerikanerin doch immer noch in Venedig verorten, weil ihr Commissario dort seine Arbeit macht, gingen alle im zweiten Umlauf tiefer auf ihre letzten Werke ein. Das war im sehr umfangreichen Buch von Irene Vallejo schon deshalb interessant, weil sie ja an die Wurzeln des Schreibens, besser, des Bewahrens des Geschriebenen, geht. Für sie ist die Bibliothek von Alexandria sogar der Beginn des Internets, nämlich der Globalisierung der Gedanken der Welt. Sie würde sehr gerne mit einer Zeitmaschine dorthin zurück, um mit den klügsten Köpfen der Zeit und der Welt kommunizieren zu können.

Weiterhin ging sie darauf ein, daß sie PAPYRUS in der schwierigsten Zeit ihres Lebens schrieb, wo gerade ihr Sohn mit Atemproblemen geboren war und sie dies als Abgesang ihres Schreibens ansah und glaubte, Abschied von der Literatur nehmen zu müssen. Stattdessen schrieb und schrieb sie: „Schreiben ist ein Akt der Verführung.“

Shelly Kupferberg dagegen konnte es endlich angehen, über ihren Urgroßonkel Isidor aus Wien zu schreiben, der als Kind eines besonders religiösen Vaters ohne weitere Ausbildung von Ostgalizien nach Wien aufbrach und sich dort hocharbeitete, wie man es nicht für möglich hält, nämlich Kommerzienrat und Multimillionär wurde, einen außerordentlichen politischen und gesellschaftlichen Einfluß hatte, wirtschaftlichen sowieso und 1938 von den Nazis in den Tod getrieben wurde. Ein sehr ungewöhnliches Leben eines ungewöhnlichen gesellschaftlichen Aufstiegs, weshalb die Fallhöhe durch die Nazis besonders tief war. Wir haben alle bei der Veranstaltung vorgestellten Bücher gelesen und Großonkel Isidor ist eine so ungewöhnliche Figur, daß sich die Lektüre lohnt, auch deshalb übrigens, weil es eine vergnügungssüchtige Donaumetropole zeigt.  

Auch Donna Leon kam zu Wort, die von ihrem neuen Buch erzählte, wo es um sie selber geht: EIN LEBEN IN GESCHICHTEN. Aber sie blieb eher zurückhaltend, es waren die anderen Autoren mit ihren Büchern einfach sehr aufregend. Auch für sie. 

Und wer brachte den Ausspruch Martin Walsers: „Ein Buch ist eine Schaufel, mit der ich mich umgrabe.“?

Fotos:
Titel: von lks: Scheck, Noll, Keel, Kupferberg, Kurkow, Vallejo
Text: nach der Veranstaltung
alle Fotos©Redaktion


Info:
Irene Vallejo, PAPYRUS. Die Geschichte der Welt in Büchern, Diogenes 2022
ISBN 978 3 257 07198 6

Shelly Kupferberg, ISIDOR. Ein jüdisches Leben, Diogenes 2022
ISBN 978 3 257 07206 8

Donna Leon, Ein Leben in Geschichten, Diogenes 2022
ISBN 978 3 257 07190 0

Andrej Kurkow, Samson und Nadjeschda, Diogenes 2022
ISBN 978 3 257 07207 5