diozweites70 Jahre Diogenes am Donnerstag, 20. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse im Frankfurt Pavilion (Agora), Teil 2/2

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nachdem sich Ingrid Noll erst einmal selbst vorgestellt hatte: „Ich bin eine alte Hexe?“, wollte Moderator Dennis Scheck von ihr wissen: „Wann hat es Sie das letzte Mal gejuckt, jemanden umzubringen?“ Ihr sofortiges: „In diesem Moment!“, machte ihn sprachlos. Und das Publikum brauchte einen Moment, bis es der reaktionsschnellen 87jährigen überhaupt folgen konnte. Aber dann kam ein brausender Beifall und ein Gekicher, das es in sich hatte.

So ein Auftakt ist schon die halbe Miete. Denn immerhin lag die erste, interessante Runde schon hinter einem und das wird dann beim zweiten Mal leicht dröge. Dazu kam es nicht. Man hätte Ingrid Noll stundenlang zuhören können, gerade weil sie nicht weit ausholt, sondern Statements abgibt, die man sofort schonegruppehinterfragen will. Wenn Scheck auf Georg Büchners Danton zu sprechen kommt, der fragt: „ „Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?“, dann kommt von Noll: „Würde ich nie machen.“ Sie nahm ihm systematisch den Wind aus den Segeln, aber derart gekonnt, daß man seine Freude an einer so Schlagfertigen und Wortmächtigen hatte. Doch, doch, in bestimmten Fällen ist man zu allem möglichen fähig, konstatierte sie ihm und kam darauf zu sprechen, was ihr bei ihrem literarischen Personal gefällt: Sie handeln, wie sie es nicht gedacht hätten. Und: Bei mir morden Frauen. Und das hat Gründe, denn Männer morden eher grobschlächtig, Frauen machen es auf diskrete Weise. Na, denn!

Der Neue: TEA TIME hat wieder einen hinreißende Ausgangssituation. -Wie oft spielt er in der Heimat der Autorin, in Weinheim an der Bergstraße, wo sich die beiden Freundinnen Nina und Franziska mit vier weiteren Frauen zusammentun zum Klub der Spinnerinnen. Endlich können sie mal Tacheles reden, ohne gleich fertiggemacht zu werden. Doch dann verliert Nina ihre Handtasche, was folgt ist schon schräg...

Solomonica de Winter ist ein neuer Name unter den Diogenes Autoren, aber ihre Eltern kennt man gut: denn sie ist die Tochter des niederländischen Autorengespanns Leon de Winter und Jessica Durlacher. Letztere ist die einzige Überlebende ihrer Familie, die in Auschwitz umkam. DAS GESETZ DER NATUR lautet ihr Buch, das allerdings schon das zweite ist, das erste schrieb sie vor acht Jahren, da war sie siebzehn. Bei den Fragen zur Absicht und zum Buch selbst und ihren Antworten, hätte man sich auf einmal Irene Vallejo dazu gewünscht, die ja in der ersten Gruppe über ihr Buch PAPYRUS gesprochen hatte, wo es nicht nur um Schrift und Schreiben, sondern auch darum geht, auf welchen Trägern sich in der Vergangenheit die Schrift verbreitet hatte. Zwischen dem Beginn bei Vallejo und dem von De Winter sind rund 3000 Jahre vergangen und DAS GESETZ DER NATUR ist schon deshalb eine Dystopie, weil in ihrer Zukunft in Neuamerika die Menschen überhaupt nicht mehr schreiben können, lesen auch nicht, denn sie leben versteckt in den Wäldern, verhalten sich wie Tiere, die alles tun, um zu überleben. Gaia Marinos ist die Frau, mit der wir zusammen mit einem Jäger und einem Lehrer durch die Wälder streichen, die eine Eigenschaft hat, die eigentlich keiner braucht. Sie kann lesen, was wertlos scheint, denn es gibt ja keine schriftlichen Aufzeichnungen, aber es gibt noch alte Bücher, die will sie retten...

Auch der Roman HARD LAND von Benedict Wells spielt in den USA, allerdings in der jüngst vergangenen Zeit, in Missouri, 1985. Als er in der Runde darüber mit pressesprach, wußte noch keiner, daß er anderntags eine hohe Auszeichnung dafür erhält. Er erhielt den deutschen Jugendliteraturpreis 2022 in der Kategorie Preis der Jugendjury. https://weltexpresso.de/index.php/buecher/26761-sechs-konnten-gewinnen-und-einer-wird-fuer-sein-lebenswerk-geehrt

Nein, sein Roman ist kein Kinderbuch, aber Jugendliche finden in diesem Erwachsenenroman sich selber wieder. Er schreibt nicht für eine spezielle Zielgruppe. Er schreibt über die Möglichkeit, die einem 15jährigen geboten sind, wenn er mitten in ätzenden familiären Problemen sich davonmacht und einen Ferienjob in einem alten Kino annimmt. Die 80ziger Jahre hat er mit Absicht gewählt, denn er hat sie ja nicht selbst erlebt, hat sie nur über Bilder, über Filme wahrgenommen und das hat seine Phantasie in Gang gesetzt.

Auch bei Stefanie vor Schulte sind es Jugendliche, die am stärksten auf die Gegenwart reagieren, die Kinder der Familie Mohn, deren Mutter Johanne gerade gestorben ist, Vater Adam ist wie tot, Tochter Linne ist wütend, Steve, der schon studiert und sofort nach Hause kommt und das Nesthäkchen Micha versuchen, sich dagegen zu stemmen, daß der Tod etwas Endgültiges ist. Sie ist eine erfolgreiche Autorin aus Marburg, wo sie mit Mann und vier Kindern lebt. Und dann noch so viel schreibt. Da wünschte man sich gleich eine Autobiographie!

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Titel: von lks: Scheck, Noll, Keel, de Winter, Wells, vor Schulte
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