Bücherzettel Winter 2022, Teil 1/2
Thomas Scheben
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Wenn das Wetter mies und die Abende lang sind, empfiehlt sich als Sportart das Umblättern von Buchseiten. Angesichts des Gedenkens an den 175. Jahrestag der Eröffnung des ersten freigewählten deutschen Parlaments im kommenden Jahr nimmt es nicht Wunder, dass etliche neue Publikationen diese Ereignisse in den Blickpunkt rücken. Viele Jahrhunderte, gar Jahrtausende blicken die Archäologen zurück in die Vergangenheit, in der auch Krimiautoren ebenso fündig werden wie in der politischen Gegenwart der Mainmetropole. Und zu entdecken gibt es in dieser Stadt immer etwas.
Frankfurt stand im September auf
Zur Einstimmung auf die zahlreichen Veranstaltungen des revolutionären Jubiläumsjahres präsentiert das Institut für Stadtgeschichte noch bis September kommenden Jahres eine Ausstellung, die das Revolutionsgeschehen aus der Perspektive der Stadt Frankfurt schildert und die Frankfurter Protagonisten, Schauplätze und Besonderheiten hervorhebt.
Die Freie Stadt war keineswegs nur Bühne und Austragungsort landesweiter Ereignisse. Vielmehr war die Einwohnerschaft in vielerlei Weise selbst involviert, nicht zuletzt, um die antiquierten politischen Verhältnisse im Römer in Bewegung zu bringen. Das Paulskirchenparlament war ihnen dabei keine große Hilfe, denn viel zu sehr war man dort auf das Funktionieren der Stadtregierung angewiesen, als dass man diese durch einen Umsturz mattsetzen wollte.
Gewaltsam zur Sache ging es dann doch noch im September 1848, und so steht dieser „Septemberaufstand“ im Fokus des reich illustrierten Buches. Es zeichnet dessen Vorgeschichte, Verlauf und Folgen nach und ordnet das Geschehen vor Ort in den gesamtdeutschen Kontext ein. Den Autoren, Historiker am Institut für Stadtgeschichte, ist damit zugleich eine Frankfurter Geschichte des Revolutionsgeschehens und eine übersichtliche Einführung in die Thematik gelungen, die dank der vielen Abbildungen viel Zeitgeist und Zeitkolorit vermittelt.
Markus Häfner / Thomas Bauer: Auf die Barrikaden! Paulskirchenparlament und Revolution 1848/49 in Frankfurt, Henrich Editionen 2022, 87 Seiten, 18 Euro
Eine Straße neu entdecken
Ein wenig übertreibt der Titel: Keine Meile, gerade einmal 302 Meter misst die Braubachstraße im Herzen der Frankfurter Innenstadt. Und das auch noch nicht allzu lange. Vor etwas mehr als einhundert Jahren wurde diese Schneise nicht gerade, sondern in einer geschwungenen S-Form durch die damals zum Slum verkommene Altstadt geschlagen und alsbald von Straßenbahnschienen durchzogen.
Heute bildet sie die zahlreichen Facetten der Mainmetropole ab. Auf engstem Raum bieten Antiquariate, ein Museum sowie Galerien exquisite Kunst und mehrere Cafès und Restaurants feinste Gaumenfreuden an, können in Geschäften selbst Angler und Autofreunde fündig werden, gibt es Blumen, Biokost, Mode und das dazu passende Geschmeide. Von hier aus werden in diversen Behörden die Geschicke der Stadt gelenkt, die Buchmesse gesteuert, fördern Stiftungen Bildung, Kultur und Soziales – und nicht zuletzt wird im urbanen Milieu gewohnt und in der neuen Altstadt flaniert.
All dies und noch einiges mehr lässt die Autorin in knappen, illustrierten Texten lebendig werden, stellt in Porträts die Protagonistinnen – es handelt sich in der Tat mehrheitlich um Frauen – vor, greift in die bisweilen abenteuerliche Geschichte zurück und bietet Zahlen und Fakten. Nach der Lektüre dieses Straßenführers wird man diese oft durch- und überquerte Frankfurter Häuserzeile gewiss mit anderen Augen sehen.
Dagmar Priepke: Die Braubachstraße. Eine urbane Meile in Frankfurt, Axel Dielmann-Verlag 2022, 184 Seiten, 20 Euro
Giftmörder zur Strecke bringen
Ein Abend im Schumann-Theater hatte gereicht, und ein junger Adliger war dem Fechtartisten in seiner Fantasie-Uniform restlos verfallen. Zunächst voller Eifersucht, dann immer argwöhnischer verfolgt seine Schwester, wie ihr der Zwillingsbruder immer mehr entgleitet. Bald kommen mysteriöse Geldgeschäfte dazu. Die frischgebackene Ärztin geht der Sache nach, sucht sich Hilfe bei einem psychiatrisch erfahrenen Kollegen und einem Privatdetektiv, die immer neue Ungeheuerlichkeiten aufdecken. Als ihr Bruder schließlich auf rätselhafte Weise ums Leben kommt, riskiert sie Kopf und Kragen, um dem Täter das Handwerk zu legen.
Die Autorin zahlreicher historischer Krimis hat hier den gut dokumentierten Fall des Frankfurter Giftmörders Karl Hopf in eine fiktive Handlung verwoben, der 1914 wegen mehrerer Morde und Mordversuche an Familienmitgliedern hingerichtet wurde. Dabei ging es zumeist darum, Erbschaften oder Lebensversicherungen zu kassieren, die der hochmanipulative Verbrecher für sexuelle Ausschweifungen ausgab.
Entsprechend treten zahlreiche historische Persönlichkeiten wie der Psychiater und Struwwelpeter-Autor Heinrich Hoffmann auf, man durchquert die gründerzeitlichen Stadtviertel, taucht in die Moden und Marotten jener Vorkriegsjahre wie die Tango-Manie oder die Kunstrichtung der Dècadence ein und verfolgt, wie der wissenschaftliche Fortschritt in Medizin, Chemie und Psychologie schließlich dazu beitragen, den Täter zu überführen.
Ursula Neeb: Weihrauch, Societäts-Verlag 2022, 303 Seiten, 15 Euro
Redde, schbreche und onnerhaale
Sobald von „Hessisch“ als deutschem Dialekt die Rede ist, fällt den meisten Zuhörern wohl als erstes der Sprachklang entlang des Mains ein, der als „Medienhessisch“ die Wahrnehmung des Hessenmundwerks innerhalb und außerhalb des Bundeslandes prägt. Tatsächlich aber wird in Hessen eine Vielzahl von recht unterschiedlichen Dialektvarianten gesprochen, die sich oft, weder unter einander, noch von benachbarten Bundesländern trennscharf abgrenzen lassen. Daher bezeichnet der Autor unser Land auch als das „komplexeste Dialektgebiet auf deutschem Boden“.
Gerade die Sprachgeografie des Rhein-Main-Gebietes hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Hier sind infolge der ausgeprägten Bevölkerungsbewegungen die lokalen Dialekte im Begriff, von einem neuen „Rhein-Main-Regiolekt“ überlagert zu werden, in dem das klassische „Frankfodderisch“ eines Friedrich Stoltze nur eines von zahlreichen Elementen darstellt.
Anhand alphabetisch geordneter Stichwörter nähert sich der Hamburger Linguistikprofessor der hessischen Sprachvielfalt aus unterschiedlichen Richtungen an. Sprachgrenzen, Lautverschiebungen, Bedeutungs- und Aussprachevarianten werden ebenso an zahlreichen Beispielen und Anekdoten erörtert wie grammatische Besonderheiten und sprachgeschichtliche Entwicklungen – und das alles mit wissenschaftlichem Anspruch, aber auf äußerst vergnügliche und flott zu lesende Weise.
Lars Vorberger: Hessisch. Vom Babbeln und Schnuddeln, Dudenverlag 2022, 127 Seiten, 12 Euro
Dem Untergrund seine Geheimnisse entlocken
Frankfurts Geschichte beginnt nicht erst mit Karl dem Großen, und nicht einmal die Römer waren die ersten an Main und Nidda. Bis ins sechste vorchristliche Jahrtausend reichen die Besiedlungsspuren am Domhügel zurück, und rund 450 Grabhügel sowie ausgedehnte Gräberfelder in Harheim zeugen vor allem in der Bronze- und Eisenzeit von einer dichten keltischen Besiedlung. Sobald man in Frankfurt einen Spaten in den Boden senkt, kann man sicher sein, auf Hinterlassenschaften dieser Altvorderen zu stoßen.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts, als das Zeitalter der Aufklärung das Interesse an der Archäologie weckte, begann man, solche Funde aufzubewahren, nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft zu untersuchen und einzuordnen. Manches ist freilich den Zeitläuften zum Opfer gefallen; von vielen Funden sind nur noch Beschreibungen oder Zeichnungen erhalten, viele Fundstätten wurden durch Bauarbeiten und die frühen, recht rabiaten Grabungsmethoden zerstört. Der verstorbene Autor Christoph Willms, Kustos der Prähistorischen Sammlung des Archäologischen Museums, folgt in seiner von einem seiner Schüler vollendeten Dokumentation Frankfurter Kultur- und Museumsgeschichte zwei thematischen Linien. Zum einen beschreibt er die frühgeschichtlichen Fundstätten und Funde im Stadtgebiet, zum anderen liefert er eine Grabungs- und Sammlungsgeschichte bis zum Zweiten Weltkrieg, die auch die Biografien der Ausgräber und ihre Methoden umfasst. Wer immer sich für diesen Aspekt Frankfurter Stadt- und Kulturgeschichte interessiert, wird diesen Band mit großem Gewinn lesen.
Dass die Archäologie in Frankfurt keineswegs nur Geschichte, sondern aktuelle Gegenwart ist, belegen die regelmäßig erscheinenden Berichte des städtischen Amtes für Denkmalpflege. In kurzen Artikeln werden, nach Stadtteilen geordnet, die dank intensiver Bautätigkeit zahlreichen größeren und kleineren Funde dokumentiert, die oft wenig spektakulär erscheinen. Allerdings öffnen gerade unscheinbare Alltagsgegenstände Gucklöcher in die Vergangenheit und nicht selten werden bislang feststehende Anschauungen und lokale Überlieferungen in Frage gestellt. Dabei rückt auch die jüngere und jüngste Vergangenheit in den Blick der Archäologen, die auch Funde aus dem Mittelalter und Spuren von Flakstellungen und Luftschutzgräben aus dem Zweiten Weltkrieg unter die Lupe nehmen. Dabei gab es in dem hier behandelten Zeitraum durchaus Aufsehen erregende Entdeckungen wie ein mit modernsten Techniken der Rechtsmedizin geklärter gewaltsamer Tod vor hunderten von Jahren, die Skelette von napoleonischen Soldaten, die inzwischen ein würdiges Begräbnis erhalten haben, mittelalterliche Hafenanlagen und ausgedehnte Gräberfunde in Harheim. Buchstäblich eine Fundgrube für allgemein Geschichtsinteressierte und Stadtteilhistoriker.
Die keltischen Grabfelder der Hallstatt-Periode in Harheim wurden in einer Dissertation dokumentiert, diskutiert und analysiert. Die zahlreichen Grabbeigaben wie Schmuck, Kosmetikgeräte, Keramik, Waffen und sogar einige Textilspuren geben Auskunft über Kultur- und Handelsbeziehungen dieser Frühfrankfurter, deren Netzwerke sich über ganz Mitteleuropa bis nach Italien erstreckten. Dabei geben Analysen des Bodens in den Gräbern anhand seiner Zusammensetzungen sogar Beigaben preis, die längst vergangen und für das Auge unsichtbar sind. Die Lektüre dieser Abschnitte lässt einiges von der Faszination erahnen, die von diesen Entdeckungsreisen in längst vergangene Zeiten ausgeht; wer immer tiefer in die Details dieser Funde und ihrer Bearbeitung einsteigen möchte, ist hier genau richtig.
Die drei großformatigen, aufwendig gestalteten Bände sind opulent mit Abbildungen, Grafiken und Tabellen bestückt, übersichtlich gegliedert und trotz allem wissenschaftlichen Anspruch in einem verständlichen und flüssig zu lesendem Deutsch abgefasst – in der deutschen Wissenschaftspublizistik nach wie vor leider keine Selbstverständlichkeit.
Christoph Willms: Prähistorische Grabfunde aus Frankfurt am Main. Eine Bestandsaufnahme von den Anfängen bis zum Zweiten Weltkrieg, Schnell & Steiner 2021, 328 Seiten, 44,95 Euro
Andrea Hampel / Elke Sichert: Archäologie in Frankfurt 2017 – 2019, Schnell & Steiner 2021, 496 Seiten, 36 Euro
Jan Christoph Breitwieser: Frankfurt am Main-Harheim. Die hallstattlichen Gräberfelder, Schnell & Steiner 2022, 432 Seiten, 79 Euro
Einer politischen Familie folgen
Dem Namen von Gagern kann man in Frankfurt und Umgebung quasi auf Schritt und Tritt begegnen. Kaum eine Stadt, in der nicht eine Straße oder Schule diesen Namen trägt; „das Gagern“ ist eines der bekanntesten Gymnasien der Mainmetropole. Und im Zusammenhang mit dem Jubiläum des Paulskirchenparlaments wird er noch des Öfteren zu hören sein. Wer sich indes näher mit den Namensträgern befassen wollte, musste lange Zeit enttäuscht Buchladen oder Bibliothek verlassen. Trotz ihrer politisch-historischen Bedeutung ist kein Buch über die Familie von Gagern, nicht einmal den Paulskirchenpräsidenten Heinrich von Gagern, auf dem aktuellen Stand der Geschichtsschreibung erhältlich.
Vater Hans Christoph war als Chef-Minister und Diplomat in Diensten des Fürstentums Nassau einer der Architekten des Deutschen Bundes und gehörte 1820 dem Landtag von Hessen-Darmstadt an. Frustriert von deutscher Kleinstaaterei und Repression stritten seine Söhne Heinrich, Friedrich und Max für Freiheits- und Bürgerrechte und politische Partizipation, die sie freilich nicht in einer Republik, sondern eher in einer konstitutionellen Monarchie verwirklicht sahen. Wie im Niederadel üblich, traten auch die Gagern-Söhne in fürstliche Dienste. Friedrich als Soldat in den Niederlanden, Max als Hochschullehrer und später als geschickter Diplomat für das Fürstentum Nassau, Heinrich, ebenfalls Jurist, zunächst in der hessischen Justiz, dann in der Landespolitik. Das Jahr 1848/49 sah dann beide in der Paulskirche, während Friedrich im Kampf gegen badische Aufständische ums Leben kam; Heinrich von Gagern amtierte im Revolutionsjahr als hessischer Ministerpräsident, stand an der Spitze des Parlaments und schließlich noch der kurzlebigen Revolutionsregierung vor.
Hervorzuheben ist, dass der Autor, als Journalist am langjährigen Wohnsitz der Gagerns in Kelkheim beheimatet, immer wieder die familiären Verflechtungen, den Austausch und den gegenseitigen Rückhalt innerhalb der Familie auch über Meinungsunterschiede hinweg in den Blickpunkt rückt. Die Einbindung in die bisweilen völlig gegensätzlich orientierten Netzwerke der regierenden Eliten und zeitgleich in die politische Opposition über Staatsgrenzen hinaus erzwang immer wieder die Anpassung von Zielrichtung und Vorgehensweisen, ohne die grundsätzlichen Überzeugungen jemals in Frage zu stellen. Das Buch verbindet insofern die Familienbiografie mit Demokratie- und Regionalgeschichte, wobei man dank der konsequenten Nutzung des Familienarchivs und der zahlreichen Publikationen der äußerst schreibfreudigen Gagern-Familie und ihrem Umfeld denkbar nahekommt.
Torsten Weigelt: Gagern. Pioniere der deutschen Demokratie, MainBook 2022, 304 Seiten, 25 Euro
Mörderische Geflechte entwirren
Ein langgedienter, erfolgreicher und angesehener Bundestagsabgeordneter, der in seinem Frankfurter Wohnhaus erschossen wird, wirbelt naturgemäß mächtig Staub auf. Politik und Medien verlangen schnelle Aufklärung, und so steht das frisch zusammengestellte Kriminalistenduo mächtig unter Druck.
Spuren ins Privatleben, in parteipolitische Rangeleien an Main und Spree, in die ebenso lukrativen wie undurchsichtigen Nebentätigkeiten und schließlich in die Geflechte nahöstlicher Geheimdienste verlaufen im Sande. Durchstechereien in die Medien, Zeugen, die mehr zur Verwirrung als zur Erhellung beitragen, nicht zuletzt politische Vorurteile der Ermittler selbst blockieren die Polizeiarbeit. Fast sieht es so aus, als sei hier der perfekte Mord gelungen, als ein weiterer Todesfall wieder Bewegung in den Fall bringt und der Gerechtigkeit Genüge getan wird – oder doch nicht?
Der Autor, selbst lange als Frankfurter Bundestagsabgeordneter in Berlin und nun wieder als politikwissenschaftlicher Hochschullehrer tätig, hat hier nach zahlreichen Fachpublikationen einen Ausflug ins Krimi-Fach unternommen. Herausgekommen ist freilich mehr als ein spannender Roman, nämlich wiederum ein Buch über die Hinter- und Abgründe des politischen Betriebes, seiner Machenschaften und deren Akteure. Zwar ist der Band kein Schlüsselroman, aber einigermaßen informierte Leser werden doch mit einigem Schmunzeln die zahlreichen Parallelen zwischen fiktiven Personen und Orten und Frankfurter Realitäten, dazu das Spiel mit Klischees über Politik und ihre Akteure genießen.
Matthias Zimmer: Der tote Bundestagsabgeordnete, Henrich Editionen 2022, 289 Seiten, 16 Euro
Foto:
Auszug aus: Collage mit Buch-Covern der vorgestellten Werke
©Stadt Frankfurt