Bildschirmfoto 2023 01 01 um 22.25.50Ben Creeds zweiter Leningradkrimi mit dem 2. Fall für Leutnant Revol Rossel

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Gut, daß der Putinsche Angriffskrieg nicht alle Rußlandthemen erledigt. Denn natürlich ist dies Land, das flächenmäßig größte der Erde und mit einer äußerst dramatischen Geschichte, für Europa weiterhin wichtig. Und unsere Neugierde über die Verhältnisse der damaligen UdSSR im Jahre 1953 trifft sich mit dem zeitgeschichtlichen Kolorit, das den hier geschilderten grauslichen Kriminalfall begleitet.

Wer gerade in einem sibirischen Gulag inhaftiert ist und unter welchen Bedingungen jemand dort starb oder zurück ins Leben durfte, ist auch heute noch unüberschaubar, denn das Geflecht der Einflußreichen, war – eben ein Geflecht. Auf jeden Fall gelingt es Major Nikitin, den 3 000 Kilometer in Sibirien dahinvegetierenden Revol Rossel aus der Todesmühle herauszuholen, weil er ihn in Leningrad wegen besonders grauenhafter Todesfälle als Ermittler braucht. Er und andere schwören auf dessen detektivischen Fähigkeiten.  Daß Nikitin auch derjenige war, der maßgeblich an seiner Deportation nach Sibirien beteiligt war und vor allem ihm eigenhändig Finger seiner linken Hand abgeschnitten hatte, so daß der musikliebende Violinist nicht mehr spielen kann, bleibt der Hintergrund für das stets wechselnde persönliche Verhältnis von Nikitin und Rossel, das für die Aufklärung der Morde unabdingbar gut sein muß, aber im Kern und so auch am Schluß antagonistisch ist.

Schwer zu durchschauen sind die Morde in Leningrad, die einerseits besonders grausam sind, andererseits literarische und sonstige Besonderheiten aufweisen. Die Bevölkerung, denen die Aushungerung durch die deutsche Besatzung vom 8. September 1941 bis 27. Januar 1944 mit über  1, 1 Millionen Toten noch immer in den Knochen steckt, sagt, daß Koshchei zurückgekehrt sei, eine sagenhafte und unsterbliche Gestalt der russischen Märchenwelt. Da fehlen Gliedmaße oder die Zunge wird herausgeschnitten, schreckliche Dinge und rätselhaft bleibt, daß im Gaumen der Ermordeten kleine Papierschnipsel gefunden werden, auf denen italienische sonettähnliche Zeilen stehen. Und da gibt es noch die Gemeinsamkeit von Medaillons und der Mitlgiedschaft der Ermordeten in derselben militärischen Gruppe. Auffallend zudem, daß die Leichen im unterirdischen Kanalsystem und Hinterhöfen gefunden werden, aber sicher woanders ermordet worden sind. Die Aufklärung nimmt seltsame Wege, zu denen die Lektüre von Machiavellis Il Principe gehört, und unsere Bekanntschaft einer russischen Filmproduktion Lenfilm, wo der ältlich gewordene Star Tarkowski, der dem von den Deutschen in Kriegsgefangenschaft ermordeten Sohn von Stalin, so täuschen ähnlich sieht, ein Nischendasein lebt – und überlebt. Diese Drei sind vorübergehend das Ermittlertrio, die sogar gemeinsam nach Bayreuth fahren – schon witzig, wie das im Januar 1953 vonstatten ging, von Leningrad nach Bayern! -, denn eine Wagnerpartitur spielt eine wichtige Rolle. Nicht wegen der Noten, sondern wegen des in ihr versteckten Code.

Daß es nämlich insgesamt um die potentielle Herstellung einer Wasserstoffbombe geht, dessen Bauplan ein Nazi-Physiker schon fertig hatte und die die Russen als Antwort auf die amerikanische Atombombe geben wollen, ist die eigentliche Botschaft. Wie alles zusammenhängt mit den Morden, die tatsächlich von einer Scharfschützin verübt wurden, und vor allem den widersprüchlichen Interessenlagen der Großkopferten geht etwas durcheinander, denn natürlich interessieren die auftretenden Politmasken den heutigen Leser genauso wie die Mordermittlung. Eine wichtige Rolle spielt General Swjatoslaw Pletnjow, Verteidigungsminister und Sowjetgeneral, der wohl fiktiv ist, denn damals war Alexander Michailowitsch Wassilewski bis 1953 in dieser Funktion – und da haben wir ein Problem. Nicht, daß eine fiktive Figur eine wichtige Rolle spielt, sondern daß im Januar 1953 die Abhängigkeiten und Eifersüchteleien vom Alleinherrscher Stalin eine große Rolle spielen, aber überhaupt nicht die Rede davon ist, daß Stalin doch Ende Februar schon in den Todeskampf fiel und am 5. März 1953 starb.

So taucht ziemlich auffällig Chruschtschow auf, aber unspezifisch, der dann tatsächlich Nachfolger Stalins wird und die Entstalinisierung ernsthaft in Angriff nimmt. Halt! Da fällt mir ein, daß ja von den Verfassern eine Leningradtrilogie beabsichtigt ist. Kann also gut sein, daß Stalins Tod und die Diadochenkämpfe im dritten Roman eine Rolle spielt. Ach so, den Verfassern;  ja daraus wird kein Geheimnis gemacht, daß der Allrounder Chris Rickaby und Barney Thompson zusammen Ben Creed sind, wobei durchschlagend erkennbar wird, daß der klassische Musiker Barney, der zwei Jahre am Konservatorium Leningrad studierte, hier seine musikalischen Kenntnisse des Wagnerschen Oeuvres  und Ortskenntnisse gekonnt einbringt.

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Umschlagabbildung

Info:
Ben Creed, Das dunkle Lieder der Toten, aus dem Englischen von Peter Hammans, Knaur Verlag, Dezember 2022
ISBN 978 3 426 52664 4