Bildschirmfoto 2023 01 08 um 02.31.54Wie ein japanischer Diplomat Tausenden Juden das Leben rettete, Europa Verlag

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Von Anfang an verführt der lockere, den Leser ansprechende Ton zum Weiterlesen. Das muß man ausdrücklich hervorheben und auch, daß es der Autor dem Leser, der Leserin leicht macht mit seinen Vorab- Verzeichnissen der handelnden Personen
1. in der Familien
2. an den drei Orten Harbin, Kaunas, Berlin,
die man dann gerne im Verlauf nachschlägt, denn das Leben von SEMPO ist ereignis- und menschenreich.

Diese Lockerheit tut gut, denn im Kern handelt es sich um ein sehr ernsthaftes Thema, bei dem sich jemand wie ich fragt, warum er davon noch nichts gehört hatte und den Namen Chiune Sugihara genauso wenig kannte, wie die Zuschreibung als ‚japanischer Schindler‘. Das einzige, was man bei diesem Vergleich, gegen den Andreas Neuenkirchen anschreibt, positiv vermerken kann: Sie wissen sofort, um was es geht Und wie Schindler kein 08/15 Typ war, so bekommen wir schon nach einigen Seiten einen Heidenrespekt vor dem am 1. Januar 1900 geborenen Chiune Sugihara, der in den diplomatischen Dienst eintrat, was Spionage miteinschloß, der sich später den Codenamen SEMPO gab,  ob seiner Wissenslust und seiner Bereitschaft, sich ins Ungewisse zu wagen, was hier erst einmal die Mandschurei ist, was wir leider nicht auswälzen können. Wir bekommen auch zumindest Respekt davor, auf welche Weise uns Andreas Neuenkirchen diesen Menschen, diesen Japaner, diesen Kosmopoliten und seine Rettungsaktion für Juden nahebringt, der in seinem Bereich, also der Diplomatie Japans, einzigartig blieb und die Rettung nur deshalb erreichte, indem er entgegen der Weisung aus Japan, dem Bündnispartner des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg,  in Kaunas/Litauen als Vizekonsul (einen Konsul gab es nicht) für 6 000 bis 10 000 Juden verschiedener Nationalitäten japanische Visa ausstellte, mit denen sie erst mit der Transsibirischen Eisenbahn Rußland durchquerten und dann mit dem Schiff nach Japan gelangten, wo es für die meisten woandershin weiterging.

Was man sofort feststellt: Wir wissen einfach zu wenig über das Japan der Zeit. Hängen geblieben ist mir Japan nur über die Russische Revolution 1905, die anläßlich der Niederlage des Zarenreiches gegen den Angriffsgegner, das japanische Kaiserhaus , in Rußland losbrach. Sehr interessant eine Aussage, die ich außerhalb des Buches fand, daß Japan auch offiziell die deutsche Judenpolitik, d.h. Aussonderung, Zusammenscharren und Ermordung Millionen von Menschen nicht gut hieß, erst recht nicht mitmachte, weil Japan 1905 von einem jüdischen Bankier aus New York, Jacob Schiff,  einen Kredit über 196 Millionen Dolllar erhalten hatte, ohne den der Sieg gegen Rußand nicht möglich gewesen wäre. Die Sitten in Japan sind nach außen besonders höflich, aber ihr Ehrbegriff hat brutale Auswirkungen und im Umgang mit Unterlegenen gelten Japaner als besonders grausam, was Chiune Sugihara mehrfach, deutlich in Korea, miterlebte, zeitlebens verurteilte und das Gegenteil tat.

Und wäre ich nicht mehrfach in Korea gewesen, könnte ich die Sichtweise der Koreaner auf die besonders brutalen Gräuel durch die japanischen Besatzer damals und infolge des 2. Weltkriegs gar nicht verstehen. Noch heute herrscht in Südkorea ein nicht nachlassender, tief verwurzelter Haß gegen die japanischen Besatzer, zu denen auch – wenngleich zivil – der Vater des jungen Sugihara gehörte.

Sehr interessant und nachvollziehbar die psychoanalytische Sichtweise des Autors, der die späteren humanen Taten des Japaners mit dessen Jugend und den negativen Erfahrungen von Ausgegrenztsein, Isoliertheit, eben der ‚Andere’ zu sein, der nicht dazupaßt, erklärt. Denn, damit kein Mißverständnis aufkommt, die Ausstellung von Visa mit dem offiziellen Stempel des japanischen Bevollmächtigen in Litauen, erst recht in diesem Ausmaß, war todgefährlich für Sugihara und seine Familie mit nach und nach vier Kindern, die immer mit ihm reisten.

Der Autor stellt diese, ab 29. Juli 1940  über Monate andauernde Aktion der massenhaften Vergabe von Transitvisa so lebendig und dramatisch dar, als sei er dabei gewesen und kann sich doch nur auf wenige Fotos der langen Schlangen vor dem Konsulat und Augenzeugenberichten sowie den Memoiren der Familie berufen. Über Jahrzehnte war darüber weder in Japan noch sonstwo überhaupt etwas bekannt. Wie gut, daß es in Jerusalem Yad Vashem gibt, die staatliche israelische „Gedenkstätte des Holocausts und des Heldenmut“, in der diejenigen, die Juden vor der Verfolgung und dem Mord durch Deutschland halfen, als Gerechte unter den Völkern geehrt werden, so auch 1984 – spät – Chiune Sugihara!

Der mußte mit der vielköpfigen Familie bis 1946 in einem Lager in Rumänien ausharren, bis alle über diesselbe Strecke wie die Visa-Flüchtlinge, also Rußland, nach Japan gelangten. Der Zwischenstopp war in Odessa, wo ihnen von den Russen ihr Fotoalbum weggenommen wurde. Ob das der Grund ist, daß im Buch keine einzige Abbildung von SEMPO zu finden ist. Denn man hätte nach der Schilderung eines so wissensorientierten Mannes, der eine Sprache, bevorzugt Russisch, aber auch Deutsch, Englisch und Französisch lernte, der Klavier spielte, kunstinteressiert war, ein Homme de lettres sowie außerordentlich gut aussah, ja sogar als schön bezeichnet wird, gerne  Abbildungen gesehen.

Sugihara hat sich nicht an die Kleinbürgerweisheit gehalten: Nicht so hoch hinaus, es geht übel aus. Denn übel ging es aus. Nach der Rückkehr in Japan wurde er ob seiner Eigenmächtigkeiten gerügt, aus dem Diplomatischen Dienst entlassen, hatte seltsame Beschäftigungen und ging dann alleine, also ohne Familie, nach Rußland, wohin es ihn ja seit Jugendjahren zog, weil er im Auftrag einer japanischen Firma eine Niederlassung in Moskau leiten konnte, deren Hauptaufgabe war, Rohöl nach Japan zu importieren. Aber eigentlich blieb er der Vermittler gesellschaftlicher Bräuche und empfand die Wärme, die außerhalb der Politik die russische Gesellschaft mit ihrem immensen Kulturangebot ihm bot, was er hingebungsvoll nutzte. So blieben ihm wenigstens zwanzig erfüllende Jahre, die er wohl genoß, bis er 1976 in den Ruhestand nach Japan ging.

Nach seiner Rückkehr wurden endlich seine Verdienste um die Rettung so viele Menschen zum Thema, angestoßen von denen, die mit ihm in Kaunas die Transitvisa-Aktion über die Bühne gezogen hatten. Und als er am 31. Juli 1986 starb, war er als der einzige Japaner, der den Deutschen und seinen Dienstoberen Widerstand leistete und Tausende Juden retten konnte, anerkannt. Wenigstens das.

Foto:
Umschlagabbildung

Info:
Andreas Neuenkirchen, CODENAME SEMPO, Wie ein Japanischer Diplomat Tausenden Juden das Leben rettete, Europa Verlag, Winter 2022
ISBN 978 3 95890 490 3




















































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