gescgichteRezension zum Buch von Tilo Schabert, Verlag Dunker & Humblot Berlin 2023

Gabriel Berger

Berlin (Weltexpresso) - Der Verfasser des Buches Tilo Schabert führt die Leser durch „die Werkstatt der Weltpolitik“, in der in den Jahren 1989-1990 das weitere Schicksal Deutschlands und Europas entschieden wurde. Dabei schaut er im zeitlichen Abstand von über 30 Jahren den wesentlichen Akteuren Gorbatschow, Busch, Mitterand, Thatcher, Kohl, sowie deren Beratern, Ministern und Journalisten bei deren Arbeit über die Schulter, blättert in Archiven und Bibliotheken in dem mehr oder weniger geordneten Wust von damals aktuellen oder nachträglichen Niederschriften und Erinnerungen, bewertet deren Zuverlässigkeit und Wahrheitsgehalt.


Die damaligen politischen Akteure entpuppen sich dabei  teils als aktive und besonnene Lenker der Geschehnisse, die zur Einheit Deutschlands und zur Erweiterung der EU um das vereinigte Deutschland und um die ehemals kommunistischen Ostblockstaaten geführt hatten, teils als Getriebene, die von den sich dramatisch überstürzenden politischen Ereignissen überrollt wurden. 

Einen wesentlichen Teil des Buches beansprucht die Quellenkritik. Selbst wenn es sich dabei um damals aktuelle Niederschriften handelt, die etwa die Regierungsarbeit des französischen Präsidenten François Mitterand betreffen, sei Vorsicht geboten. So würden zum Beispiel die Niederschriften von zwei bei Besprechungen Mitterands anwesenden Beratern des Präsidenten zum Teil erheblich voneinander abweichen. Je nach Arbeitsstil des Beraters liest man in Archiven teils schwer nachvollziehbare, ad hoc verfasste Notizen, teils nachträgliche, wohlgeordnete und ausformulierte Protokolle, in denen allerdings das reale Geschehen durch den Blickwinkel des Protokollanten gefiltert und zum Teil mit seinen persönlichen Ansichten vermengt ist. Dass selbst die Niederschriften der Berater Mitterands als Zeitzeugen nicht gerade objektiv sind, belegt Schabert besonders anhand der vom ehemaligen Berater Mitterands Jaques Attalie 2008 unter dem Titel „Verbatim“ veröffentlichten drei Bände, die vielen Historikern zu Unrecht als eine glaubwürdige Quelle dienen würden. Schabert weist darüber hinaus nach, dass Attalie gemeinsam mit Charles Powell, dem Chefberater der britischen Premierministerin Margret Thatcher, im Dezember 1989 eine „parallele Außenpolitik“ betrieben habe, deren Ziel es gewesen sei, die als für Europa gefährlich eingestufte Vereinigung Deutschlands noch zu verhindern. Zu Unrecht, so die Meinung Schaberts, interpretiert Attalie in „Verbatim“ die Haltung Mitterands zur Vereinigung Deutschlands als ablehnend. Wohl habe der in geschichtlichen Abläufen außerordentlich bewanderte Mitterand, wie auch andere westliche Politiker außerhalb Deutschlands, Befürchtungen über die große Macht des vereinigten Deutschlands geäußert und deshalb die strikte Einbindung des zukünftigen Gesamtdeutschlands in die EU und in westliche militärische Strukturen zur Voraussetzung für das Akzeptieren der deutschen Vereinigung durch Frankreich gemacht, nicht zuletzt,
um den sprichwörtlichen deutschen „Drang nach Osten“ im Zaum zu halten. Und doch hat Mitterand bereits im Mai 1989, also noch vor dem Fall der Berliner Mauer, eine Entwicklung hin zur Einheit Deutschlands für möglich und wahrscheinlich gehalten, die er allerding verlangsamen wollte, um sie kontrollieren zu können. 

Schabert äußert sich lobend über das streng rationale Denken und Handeln des außerordentlich arbeitsamen französischen Präsidenten, im Gegensatz zu der geradezu panischen, emotionalen Reaktion der britischen Ministerpräsidentin Margret Thatcher auf die Perspektive der deutschen Vereinigung.  Ihre Einstellung zu Deutschland und besonders zum Bundeskanzler Kohl, sei strikt ablehnend gewesen. Sie habe eine Rückkehr zu Verhältnissen in Europa von 1913 und einen ungebremsten Expansionismus Deutschlands befürchtet und deshalb sogar eine Zeitlang in Gorbatschow einen Verbündeten gesehen, mit dessen Hilfe sie die Vereinigung Deutschlands noch verhindern könnte. Und so habe es sie eine große Überwindung gekostet, im September 1990 nach den zwei plus vier Verhandlungen letztlich der Vereinigung Deutschlands zuzustimmen.

Noch negativer fällt das Urteil Schaberts über die französische Botschafterin in Ost-Berlin Joelle Timsit aus. Es scheint, so Schabert, als habe sie nie das Ostberliner Botschaftsgebäude verlassen. Denn sie habe noch im Dezember 1989, also nach dem Fall der Berliner Mauer, an die Weiterexistenz der DDR geglaubt, obwohl von Beratern Mitterands, die sich in der DDR umschauten, darunter Caroline de Margerie, ganz andere Eindrücke nach Paris übermittelt wurden.

Schaberts Kritik an den Niederschriften Attalies, denen er ein Vermengen von Fakten und Emotionen, Aneignung fremder Gedanken als eigener, zudem eine antiamerikanische und antideutsche Tendenz bescheinigt, ist ein Beispiel für seine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber Erinnerungen von Zeitzeugen. Attalie und andere Akteure und Mitstreiter der politischen Ereignisse von 1989-90 würden aber zumindest auf schriftliche Dokumente aus Archiven zurückgreifen können, die sie in ihren Texten mehr oder weniger getreu und mit einer eigenen Intention wiedergeben würden. Ganz anders sei es im Fall von mündlichen Zeitzeugen, die das vergangene Geschehen aus dem Gedächtnis rekapitulierten. Die Erinnerung von Zeitzeugen unterliege einer Verfallszeit von zwei Jahren. Innerhalb dieser Frist nach dem Geschehen könne man mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Authentizität der Erzählung ausgehen. Danach würde, vom Vergessen von Details abgesehen, die Erinnerung ein Eigenleben entfalten, besonders, wenn sie öfters erzählt würde. In die Erzählung würden sich etwa aus anderen Quellen erfahrene Elemente einschleichen, von denen man glaubt, dass sie in diesem Zusammenhang wichtig seien, und die Erzählung würde für die Zuhörer ausgebaut und effektvoll ausgeschmückt werden. Mitteilungen von Zeitzeugen könnten deshalb nur mit Vorsicht als historische Quelle angesehen werden, die Befragungen müssten strengen Kriterien unterworfen werden. Zudem sei ein Abgleich der Äußerungen von Zeitzeugen mit Archivdokumenten angebracht, um deren Glaubwürdigkeit zu überprüfen.

Gorbatschow, so Schabert, sei von allen westlichen Politikern geradezu als ein Geschenk des Himmels angesehen worden. Da sich die Sowjetunion damals in einer katastrophalen wirtschaftlichen Lage befunden habe, in den Läden mangelte es an Waren jeder Art, hätten die westlichen Staaten den flehentlichen Bitten Gorbatschows um finanzielle Unterstützung weitgehend nachgegeben, in der Hoffnung, so seinen Sturz verhindern zu können. Besonders hoch seien die finanziellen Forderungen, die Gorbatschow an Helmut Kohl persönlich gerichtet habe. Denn er habe gewusst, dass für Helmut Kohl kein Preis für die Einheit Deutschlands zu hoch gewesen ist. Gorbatschows dem Westen gegenüber offene und freundschaftliche Haltung schien die Perspektive einer dauerhaften Annäherung der Sowjetunion an den Westen zu eröffnen. Wie fragil diese Perspektive allerdings war, äußerte der erste frei gewählte Ministerpräsident der DDR Lothar de Maiziere am 14. September 1990 im Gespräch mit Mitterand. Bezogen auf die Menschen in der Sowjetunion sagte er: „Man darf ihnen nicht den Eindruck vermitteln, dass Stalin den Zweiten Weltkrieg gewonnen und Gorbatschow ihn verloren hat.“ Genau das ist aber die heutige Meinung von Wladimir Putin und seinen Anhängern. (Ergänzung des Rezensenten) 

Tilo Schabert konzentriert sich in dem Buch hauptsächlich auf die Haltung von Francois Mitterand und Margret Thatcher zur Perspektive der Vereinigung Deutschlands, die sich durch Gorbatschows Politik der Öffnung gegenüber dem Westen und durch die dramatischen Ereignisse in der DDR  in den Jahren 1989-1990 ergeben hatte. Am Rande erwähnt er, dass der amerikanische Präsident Bush zwar eine wohlwollende Haltung zur Vereinigung Deutschland hatte, um jeden Preis aber eine Neutralisierung Deutschlands verhindern wollte. Darin waren sich Bush und Mitterand einig. Um einen solchen deutschen Sonderweg zu verhindern, müsse das vereinigte Deutschland in die westeuropäischen und atlantischen Strukturen eingebunden werden.

Für alle, die hinter die Kulissen der Ereignisse, die zur Einheit Deutschlands geführt haben, schauen möchten, ist das Buch „Vom Geschehen zur Geschichte“ von Tilo Schabert ein Gewinn. 

Foto:
Umschlagabbildung

Schabert, Tilo
Vom Geschehen zur Geschichte
Sechs Kapitel zur Historiographie der Wiedervereinigung Deutschlands
Zeitgeschichtliche Forschungen (ZGF), Band 63
2023. 3 Abb.; 168 S.
Erhältlich als
Buch (Broschur)29,90 €
ISBN 978-3-428-18690-7
Schabert, Tilo, Vom Geschehen zur Geschichte. Sechs Kapitel zur Historiographie der Wiedervereinigung Deutschlands, Zeitgeschichtliche Forschungen (ZGF), Band 63
2023. 3 Abb.; 168 S. 
ISBN 978-3-428-18690-7