sanatoriumSarah Pearse wagt sich an ein schwieriges Thema und schreibt einen düsteren, aber intensiv packenden Thriller bei Goldmann

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Eigentlich geht es mir auf die Nerven, daß neuerdings fast alle ermittelnden Kommissare Lebensbewältigungs- und/oder Partnerprobleme haben. so geht es - und zwar massiv - auch Detective Inspector Elin Warner, als sie aus London mit ihrem Freund zur Verlobungsfeier ihres Bruders in die Schweiz reist. Ihre Probleme sind sogar so massiv, daß sie seit vielen Monaten beurlaubt ist und sich jetzt entscheiden muß, ob sie überhaupt wieder in den Dienst will. Ihr Freund Will ist ein ruhiger Vertreter und für Elin ein Fels in der Brandung. Er ist zuverlässig, kann alles und tut auch alles. Doch, das ist wahr und kein Hinterhalt des Krimis oder der Rezensentin.

Aber die infolge eines schweren Ermittlungsfehler beurlaubte Elin Warner war ja schon zuvor eine Angeknackste. Das liegt an der familiären Situation mit ihrem Bruder Isaac, der als Liebling der Mutter sie immer in den Schatten stellte und eine untrügliche Begabung hat, daß sie sich minderwertig und schlecht fühlen muß. Und nun muß sie zu seiner Verlobung antanzen, die er - höher hinaus wollte er schon immer - in Le Sommet feiert, einem zu einem avantgartistischen Luxushotel umgestaltetes ehemaligem Tuberkulosesanatorium ganz oben in den Schweizer Bergen, abenteuerlich mit Bus und Seilbahn zu erreichen. Und nun auch noch ein weiterer Wintereinbruch, Lawinengefahr und später noch ein totales Abgeschnittensein von der Außenwelt. 

Doch da sind die Hämmer schon passiert, von denen Elin noch keine Ahnung hat, allerdings die ganze Zeit doch irgendwie ahnt, daß noch was passieren wird. Das gelingt der Autorin ausgezeichnet, dem Leser, der Leserin ein Gefühl von Bedrohung zu vermitteln, es begleitet einen beim Lesen ein zunehmendes Gefühl von Verwicklung auf verschiedenen Ebenen, so als ob man selber in das Geschehen im Hotel involviert wäre. Doch wir sind am Anfang und Elin, die durchgehend die Hauptperson bleibt und aus deren Perspektive erzählt wird, stellt verblüfft fest, daß die Verlobte des Bruders die alte gemeinsame Freundin aus Kindertagen ist: Laure. Die ist im neuen Hotel angestellt und die rechte Hand des Besitzergeschwisterpaares Lucas und Cécile Caron. Die hatten gemeinsam mit einem renommierten Architekten das Haus umgestaltet, das international unter Architekturkennern Furore macht. Doch dann verschwand der hochgelobte Architekt Daniel und wurde nie mehr aufgefunden. 

Inzwischen sind im Hotel Dinge übernatürlicher Art passiert, von denen Laure nicht weiß, ob sie auf ihre angespannte psychische Situation zurückzuführen sind oder hier etwas Unheimliches vor sich geht. Und so war das mit dem obigen "Eigentlich" gemeint. Denn in diesem Krimi wird die psychische Verfassung von Elin und ihr Bruderkomplex Teil der Geschichte. Das ist raffiniert geschrieben und dann geht es so Schlag auf Schlag, daß man das Buch. nicht mehr aus der Hand legen möchte. Eine Angestellte verschwindet, dann passiert dasselbe mit Laure. Davor war schon der vor einem Jahr vermißte Daniel in einer Gletscherspalte tot aufgefunden worden, was noch ordentliche Polizeiarbeit war. Inzwischen kann man die Polizei nur noch telefonisch informieren, die sieht sich aber außerstande, angesichts der Wetterverhältnisse zu kommen. Als es Tote gibt, wird Elin offiziell von der Schweizer Polizei mit der Ermittlung beauftragt, wobei das Offizielle eigentlich inoffiziell ist, weil es rechtlich gesehen nicht geht, faktisch aber schon. Elin stellt sich für die Leserin einige Male mehr als doof an, gefährdet sich und andere, aber - und das ist spannend zu lesen - sie ermittelt eben auch mit dem Kopf. Sie faßt die Ereignisse zusammen und stellt sich selbst Fragen, die ihre Weiterarbeit determinieren, wodurch man am Ball bleibt und sich mit dem Geschehen stark identifiziert. Daß immer neue Leute sich verdächtig machen, was sich dann in Wohlgefallen auflöst, das gehört zum Krimialltag.

Das, was nach und nach aufgrund intelligenter Recherche deutlich wird, ist schlimm genug. Das alte Sanatorium war insgeheim eine Schlachtwerkstatt für NS-Ärzte. Zwar schreibt das keiner, daß es um Nazi-Ärzte geht, aber in den Dreißiger Jahren, als die Schweiz doch eigentlich neutral und unabhängig war, wurden aus einer Berliner Klinik Frauen, immer nur Frauen hierher nach Crans-Montana im Wallis verlegt. Sie wurden mehrfach operiert, verstümmelt, Finger, Füße, Beine, Augen, Gebärmutter, Nieren etc. wurden entfernt. Der Sinn des Ganzen, dieser Abschlachterei wird nicht ganz deutlich, aber angeblich wollten diese verbrecherischen Ärzte wissenschaftliche Forschung betreiben. Wußte das neue Besitzerpaar von den Vorgängen? Angeblich nicht, denn die aufgefundenen Apparaturen werden unter Glaskästen ausgestellt, eher als skurrile Besonderheit dieses außergewöhlichen Hotels. Längst ist aus der verunsicherten, hilflosen Elin eine zupackende Kriminalistin geworden, der es tatsächlich gelingt, Licht in das Dunkle zu bringen und die Schuldigen zu entlarven. Daß dann auch noch die Gräber der über 30 armen Frauen gefunden werden, vervollständigt das Grauen, das ja geschichtliche HIntergründe hat. 

Dann allerdings setzt Sarah Pearse noch eins drauf! Es stockt einem der Atem. Im Epilog spricht einer, der die ganze Zeit die Szenerie und vor allem Elin beobachtet hatte - was diese übrigens ständig spürte- und sie ins Wasserbecken gestoßen hatte, was sie dann Laure anlastete.  Derjenige spricht auch davon, daß er keine Eile hat. "Er ist dahintergekommen, daß es das Beste ist abzuwarten, bis jemand sich entspannt hat, die Vorsicht nachläßt." Wir werden also eine Fortsetzung bekommen, wobei klar wurde, daß Elin in England ihre Polizeiarbeit wieder aufnehmen wird,  gestärkt und einig mit Will. Wenigstens das bei all dem Grauen. 

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Umschlagabbildung

Info:
Sarah Pearse, Das Sanatorium, Thriller, Goldmann Verlag, Februar 2023 
ISBN 978 3 442 20635 3