Zur verdrängten Geschichte der Bundesrepublik, Teil 2/4
Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) - Zur selben Zeit, da ehemals führende Nazis bis hin zum Ankläger im Prozess gegen die Männer des 20. Juli, Oberreichsanwalt Lautz, mühelos ihre Pensionsansprüche durchsetzten, wurden hunderten Opfern der NS-Herrschaft die Ansprüche nach dem Bundesentschädigungsgesetz aberkannt. 1959 beantragte die Bundesregierung sogar das Verbot der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die sie für eine kommunistische Tarnorganisation hielt. Das Bundesverwaltungsgericht widersetzte sich allerdings dem Ansinnen der Regierung mit dem Hinweis, es müsse geprüft werden, ob ein Verbot mit der verfassungsmäßigen Ordnung zu vereinbaren sei.
Der dieser Ordnung zugrunde liegende Sühnegedanke, dessen Verwirklichung zu den vornehmsten Aufgaben der Bundesrepublik gehöre, verlange eine Abwägung, ob gegen eine Organisation von Verfolgten ein Verbot mit der damit verbundenen Strafsanktion erlassen werden dürfe. Das Gericht setzte das Verfahren auf unbestimmte Zeit aus und lehnte die Festsetzung eines neuen Verhandlungstermins trotz des Drängens der Bundesregierung ab. Das Verfahren endete nach fünf Jahren ohne formellen Beschluss mit dem Inkrafttreten eines neuen Vereinsgesetzes.
Acht Jahre nach diesem denkwürdigen Vorgang entschied der Bundesgerichtshof: „Ein gegen eine bestehende Unrechtsherrschaft geleisteter Widerstand kann nur dann als rechtmäßig und demgemäß eine diesen Widerstand ahndende staatliche Maßnahme nur dann als Unrecht im Rechtssinne angesehen werden, wenn die Widerstandshandlung nach ihren Beweggründen, Zielsetzungen und Erfolgsaussichten als ein ernsthafter und sinnvoller Versuch gewertet werden kann, den bestehenden Unrechtszustand zu beseitigen und in Bezug auf dessen Übel eine allgemeine Wende zum Besseren herbeizuführen.“ (BGH-Urteil vom 14. Juli 1961 — IV ZR 71/61). Mit dieser Entscheidung wies der Bundesgerichtshof die Entschädigungsansprüche eines Mannes zurück, der sich 1939 lieber hatte einsperren lassen, als einer Einberufung zur Wehrmacht zu folgen. Ein Kriegsgericht bezeichnete ihn im Herbst 1939 als „roten Lumpen“ und verurteilte ihn wegen Kriegsdienstverweigerung (Zersetzung der Wehrkraft) zu dreieinhalb Jahren Festungshaft. Der Bundesgerichtshof erklärte, die Handlungsweise des Mannes sei nicht geeignet gewesen, der NS-Gewaltherrschaft in nennenswertem Ausmaß Abbruch zu tun. Auch dass er die Gewaltherrschaft durch einen aus Überzeugung geleisteten Widerstand bekämpft habe, rechtfertige keinen Entschädigungsanspruch. Zwar könne es nicht vom tatsächlichen, unmittelbaren Erfolg oder Misserfolg einer Widerstandshandlung abhängen, ob ihr der Charakter der Rechtmäßigkeit zukomme, aber sie müsse in jedem Fall als ein ernsthafter Versuch zur Beseitigung des Unrechtszustandes gewertet werden können. Von dieser Art sei der Widerstand der Männer des 20. Juli 1944 gewesen. Im vorliegenden Fall habe es sich um eine Einzelaktion gehandelt, die an den bestehenden Verhältnissen nichts zu ändern vermocht habe. „Nach allem kann der Kläger nicht als Verfolgter angesehen werden.“ Nach dieser Logik hätten zum Beispiel auch die Mitglieder der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ kein Anrecht auf Entschädigung; ihre Flugblätter haben an den bestehenden Verhältnissen gleichfalls nichts geändert. Fortsetzung folgt)
Fortsetzung folgt
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Info:
Aus Conrad Taler, „Gegen den Wind“, PapyRossa Verlag 2017