Thriller von Tracy Sierra bei Heyne
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein Debüt? Schon beeindruckend, wenngleich mit 364 Seiten zu lang, in denen es ja ständig darum geht, ob wir es mit, ja, wie heißt sie eigentlich, von ihren Kindern wird sie Mommy genannt, ob wir es mit ihr in der verschneiten Vorweihnachtszeit mit einer von einem Triebtäter verfolgten Frau zu tun haben oder mit einer psychisch mehr als angeschlagenen Witwe, deren Mann gerade durch einen Treppensturz tödlich verunglückt ist – im eigenen Haus, diesem 300 Jahre alten und verschachtelten Kasten, der einsam im Wald steht.
Diese Fragestellung und die daraus resultierende Spannung, ja, wer ist es denn, der Täter, wenn es denn einen Täter gibt und nicht das ganze Geschehen sich nur im Hirn dieser Frau abspielt, hält die Autorin mühelos durch. Dabei gibt es nur einen Haken! Denn es wäre gegen jede Krimimoral, wenn sich am Ende herausstellte, daß die laut eigenen Aussagen Verfolgte, worum es ja die vielen Seiten geht, am Schluß tatsächlich eine Irre oder einfach eine verängstigte, in ihren Phantasien gefangene Frau wäre. Da muß nach solcher Nervenspannung schon was Konkretes hin, anders geht es nicht. Außerdem liest man schon auf den Vorderseiten in Angaben über die Autorin: „Für die Figur des Eindringlings hat sie sich von der wahren Geschichte des Serienkillers Israel Keyes inspirieren lassen.“ Lesen Sie besser nicht nach, wer dieser alptraumhafte Mann war. Denn dagegen kommen einem die Selbstgespräche und Verhaltensweisen des Eindringlings schon fast harmlos vor.
Also, mitten in der stürmischen Nacht, wird die Ehefrau und Mutter, - die man immer wieder für die Icherzählerin hält, was nicht stimmt, nur evoziert wird, da ihre ständigen Ängste, Überlegungen und Strategien in Kursivschrift verschriftliche werden – mit dem Gefühl wach: Es ist jemand im Haus. Sie schaut nach ihren Kindern, die schlafen, aber dann hört sie einen kleinen Schlag auf der Treppe, den nur verursacht, wer nicht weiß, daß man sich hier bücken muß, sonst schlägt man mit dem Kopf oben an, was eben geschah..
Das ist der Ausgangspunkt für eine ausführlich geschilderte mütterliche Überlebensstrategie, die es in sich hat. Denn sie stand gerade am Bett ihres kleinen Jungen, den sie sich über die Schulter legt und sich überlegt, ob die Person auf der Treppe nicht doch ihre Tochter sein könne, aber instinktiv weiß, daß der Schatten, den sie auf der Treppe sieht und der gerade ein längliches Ding aus der Tasche holt und in die eigene Hand schlägt, von der sie und nachher die Polizei nicht ahnt, was es sein könnte, die Krimileserin aber sofort weiß, daß es ein Totschläger ist, was sich später als zutreffend herausstellt, daß dieser Schatten ein Mann ist, der ihr sogar bekannt vorkommt.
Er wendet sich ihrem Schlafzimmer zu, da, wo ihr Handy am Bett liegt und eine Pistole im Safe ruht. Diese verängstigte, in wirren Phantasien verwickelte Mutter packt überlegt und Schnelligkeit auch noch das Lieblingsstofftier ihres Sohnes ein, holt unter Flüstern und Zeichensprache ihre Tochter und schleicht sich leise durch die hintere Treppe hinab zu einem hölzernen Verschlag, den niemand wahrnimmt, weil im alten Haus an dieser Stelle die Kamine mit Holz umbaut wurden, ein Geheimversteck, das sich an einer Stelle öffnen läßt, extrem eng. Sie schiebt ihre Kinder hinein, die mitgenommene Decke, das Spielzeug und kann rechtzeitig von innen schließen, als der Fremde die Treppe herunterpoltert.
Unheimlich ist es, wie er vor sich hinbrabbelt, mit ihr redet, seine Absichten deutlich werden läßt. Denn er redet immer wieder von der Tochter, die hat es ihm angetan. Das bringt die Mutter auf eine Idee. Ist dieser massige Fremde nicht gar der Mann, der im Sommer beim Eisessen ihrer Tochter den herabgefallenen Träger vom Shirt hochgezogen hatte, was sie massiv gestört, ja verstört hatte.
Mühelos hält es die Autorin durch, jetzt bei jedem seiner Schritte die Gefühle und Überlegungen bei der Mutter zu folgern, wobei zudem wie in einem Bewußtseinsstrom ihr bisherigen Leben und spezifische Erkenntnisse vorbeiziehen. Der furchtbare Schwiegervater, ein besonderes Ekel, der seine todkranke Frau links liegen ließ. Mit ihren Ängsten werden wir Zeugen ihres bisherigen Lebens und ihrer Furcht, daß sie selbst den Horror herbeidenkt, dem sie sich jetzt ausgeliefert fühlt. Ist sie krank? Sieht sie Gespenster? Und doch sind da die Sprüche des Eindringlings, der sich dauernd vorsagt, was er gleich tun wird. Und als er auf den Dachboden will, handelt sie. Schnell ermahnt sie die Kinder keinen Laut von sich zu geben, ja stößt sie zurück, als diese mitkommen wollen und läßt sie die Holzluke wieder schließen.
Was jetzt kommt, ist eine Odyssee durch Eis und Schnee, anklopfen bei Nachbarn, die helfen, die Rettung rufen und die Polizei, die die Kinder befreit und erst einmal zum verhaßten Großvater bringt, denn sie muß mit Erfrierungen und einem kaputten Auge – da war der Zweig im Weg – im Krankenhaus bleiben. Was jetzt kommt, ist mindestens so spannend, wie die grausliche Verfolgungsgeschichte. Denn jetzt glaubt ihr die Polizei nicht. Hält sie für überspannt, ja krank. Und – um das Faß vollzumachen – glaubt sie selber zwischendurch, daß alles ihrer kranken Phantasie entspringt, weil sie den Tod ihres Mannes nicht verwunden hat, etc. Nur wir, die Leserin, halten zu ihr, wissen, daß sie sich die Dinge nicht einbildet, reden ihr zu, selbstbewußter zu sein, den Polizisten, die sie für schwach und daneben halten, den Marsch zu blasen, ihren Schwiegervater, der die Kinder nicht rausrücken will, anzuzeigen, denn wir allein sind ihre Hilfstruppen, bis sie auf eine Idee kommt, die mit einem Schlag als das, was andere erfunden glaubten, beweist. Daß der Hauptpolizist dabei ums Leben kommt, ist ihm selbst zuzuschreiben. Er hat ihr nicht geglaubt.
Nun ist sie die, die Recht hatte, im Nu sind die Kinder wieder bei ihr und alle Welt will und wird ihr helfen und sie selbst nie wieder so ein ängstliches Huhn sein, so wenig ihrer eigenen Kräfte sicher, die sie ja hat und bewiesen hat. Jetzt kann ihr keiner mehr. Und außerdem hat die Gerechtigkeit gesiegt.
Info:
Tracy Sierra, Niemand wird ihr glauben, Thriller, Heyne Verlag 2024, Deutsche Erstausgabe 1/2025
ISBN 978 3 453 42843 0