Jess Kitching läßt für ihr Opfer, ihre Heldin Hannah Alpträume wahr werden
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – So etwas ist mir noch nie passiert. Irgendwie wurde ich beim Lesen das Gefühl nicht los, hier lege eine Autorin nicht einen Krimi vor, sondern es würde ein Mensch in höchster Not von realen existentiellen Gefahren an Leib und Leben sprechen. Wenn der Verlag bei diesem Buch mit dem Krimi-Siegel „außerordentliche Spannung“ wirbt, kommt diese genau aus der angedeuteten Konstellation, dass man unterschwellig für Wahrheit hält, was ja doch eine erfundene Geschichte ist und es ist so viel unmittelbarer und erschütternder, wenn nicht das Fiktive im Vordergrund steht, sondern man eher unbewußt, sich in der Wirklichkeit wähnt.
Durchaus geschickt gemacht also und zu dieser Schreibstrategie gehört auch, dass die Gegenwart von Hannah Allen sich fundamental unterscheidet gegenüber ihrer Situation vor zehn Jahren, als sie als einzige von einem Serienmörder, Peter Harris‚ verschont‘ blieb, zwar gefangen und vergewaltigt, ja auch gefoltert, aber ehe er sie umbringen konnte, wurde er gefaßt und sitzt nun im Gefängnis. Aber zwei weitere Opfer, die Nummer 12 und 13 konnte er noch umbringen. Wie fühlt man sich also als Opfer Nummer 11, das zwar auch Opfer ist, aber als einzige am Leben blieb?
Zehn Jahre hatte Hannah gebraucht, um über psychologische Betreuung, über Selbsthilfegruppen, insbesondere die VERTRAUENSSCHWESTERN, Einzelsitzungen u.a. so etwas wie Normalität zu empfinden. Am wichtigsten ist dabei ihr Freund Joel, mit dem sie nun schon Jahre zusammenwohnt, der sowieso sehr rücksichtsvoll ist und besonders sensibel auf ihre spezielle Situation reagiert. Sie fühlt sich durch ihn so aufgehoben, dass sie nach zehn Jahren die Entscheidung wagt, das letzte Mal zu den Sitzungen der Vertrauensschwestern zu gehen und sich von ihnen zu verabschieden.
Das war auf jeden Fall ihre Absicht, bevor sie die Meldung über Funk und Fernsehen erreichte, dass eine fünfzehnjährige Schülerin vermißt wird. Alles erinnert sie an ihren eigenen Fall. Und auf einmal ist ihre Urangst wieder da. Deshalb spricht sie zwar bei der laufenden Sitzung ihre letztmalige Anwesenheit an, aber ganz abgesehen davon, dass die Leiterin der Vertrauensschwestern, Tanya, sie nicht gehen lassen möchte, merkt sie selber, dass sie sich im Kreis dreht und ihre Ängste, die sie überwunden glaubte, alle wieder da sind. Zehn Jahre sind ja eigentlich eine lange Zeit, aber es braucht nur einen Funken, um alles als Gegenwart erscheinen zu lassen mit der Folge: Angst, Angst, Angst.
Dies kann die Autorin direkt an die Leser weitergeben. Es ist wirklich unheimlich, wie stark die Suggestion, hier erzähle jemand direkt, wirkt. Die junge Frau Hannah hat die ihr vorgesehene Rolle als Studentin nicht wahrnehmen wollten, seit langem ist sie eine von drei tragenden Kräften in einem Café, deren Besitzerin Ellen um ihre Tragik weiß und ihr sozusagen den Rücken freihält. Außerdem ist dort noch der Student Stefan beschäftigt mit dem sie einen regen Austausch über Bücher, über Literatur pflegt und ihn einfach gut leiden kann. Wie sehr Hannahs Wahrnehmung der Gefahr alle Menschen in ihrer Umgebung für sie auf einen Schlag verdächtig macht, wird an Stefan elegant durchgespielt.
Eins nach dem anderen passieren nun unheimliche Dinge. Als die erste Tote gefunden wird, die genauso ermordet wurde wie vor über 10 Jahren die Opfer von Harris, ist sofort Detective Inspector Conrad Wallace zur Stelle. Er wird Hannah nicht nur unter eine Art Polizeischutz stellen, sondern fühlt sich persönlich verantwortlich, dass ihr nichts passieren wird, denn als weitere Morde geschehen, wird klar, es geht eigentlich um Hannah. Es werden in ihrem Haus Mitteilungen gefunden, die ihr jeweils Übles androhen und sie fühlt sich verfolgt, wird es auch. Diese Mischung zwischen realer Gefahr und Paranoia, die sich einstellt, wenn Du unter Lebensgefahr Deiner Wege geht, ist wirklich gelungen. Die Autorin kann die Gefühle ihrer Protagonistin auf die Leser übertragen. Andererseits sagt einem die Leserinnenvernunft, wenn die junge Frau hier das alles erzählen kann, dann überlebt sie doch wohl?!
Also tatsächlich sehr spannend, wenn auch düster und beklemmend. Längst weiß der Kommissar, dass hier irgendwas nicht stimmt. Denn die Ermordeten wurden nicht wie einst von Harris gequält und gefoltert, sondern sie wurden betäubt und erst nach ihrem Tod gefoltert. Der Count down produziert weitere Tote, die teils für Hannah sterben. Aber mehr darf man einfach nicht verraten.
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Umschlagabbildung
Info:
Jess Kitching, Opfer Nummer 11, Ullstein Verlag, Oktober 2025
ISBN 978-3-548-07367-5