Hochinteressantes Buch “Der Große Krieg“ des Amerikaners Adam Hochschild über den Ersten Weltkrieg
Helmut Marrat
Hamburg (Weltexpresso) - Die Engländer und Franzosen nennen den Ersten Weltkrieg, anders als wir, den „Großen Krieg“. Und dieser Benennung, die eine Wertung ist, folgt der Autor.
„Der schmale Gebietsstreifen, der sich durch Nordfrankreich und diese Region Belgiens“ - gemeint ist etwa die Gegend um Ypern, wo eine der verheerendsten Schlachten stattfand - „weist weltweit die höchste Konzentration an Gräbern junger Männer auf.“
„Wenn das Vaterland rief, marschierte man.“ Diese Formel führt Hochschild an - anhand seiner weitverzweigten Familiengeschichte, um dann seine Abhandlung all jenen zu widmen, die Widerstand leisteten. Widerstand gegen den Wahnsinn des Krieges.
„Dass uns gerade dieser Krieg so fasziniert“, schreibt Hochschild, „liegt zum Teil an der Art, wie er diese selbstsichere, strahlende Welt zerschmetterte.“ Und: „Ich habe versucht, den Krieg durch die Kämpfe innerhalb Großbritanniens zu begreifen.“
Damit benennt Hochschild sein Hauptthema. Und da er weiß, dass Krieg kein abstraktes Vorkommnis ist, verschweigt er nicht die letztlich tödliche Konsequenz. Auch die abgehobene und menschenverachtende Befehlsgewalt, die Hunderttausende auf allen Seiten opferte, beschreibt Hochschild sehr klar.
In aller Regel handeln Geschichtsbücher von einzelnen Ereignissen und erkunden die dahinter stehenden Entscheidungen. Im Kriegsfalle geht es also um Schlachten, geht es um Befehle, geht es um die Anführer. Seltener, wenn überhaupt, wird von den Folgen berichtet. Und fast nie von Menschen, die sich weigerten, in den Krieg zu ziehen.
Hochschild erzählt hauptsächlich über Großbritannien. Aber immer ergänzt er seine Erzählung, indem er Geschehnisse aus anderen Ländern einflicht. Aus Russland, aus Frankreich, Österreich und vor allem Deutschland. Aber auch den USA.
Aber er baut sein Buch nicht anhand von Geschehnissen auf, wie beispielsweise Christopher Clark in seinen „Schlafwandlern“, sondern strukturiert seine Abhandlung, indem er führende Persönlichkeiten der damaligen Gegenwart wählt, sie dar- und auch gegenüberstellt.
Die Liste der Charaktere ist lang. Und Hochschild zeichnet sehr klare Charakterbilder. Er erzählt packend bis zum Schluss. Nur ein Beispiel: Oft schon hat man den Namen Bertrand Russel gehört. Bei Hochschild aber lernen wir den Menschen kennen: Seinen Mut, seine rhetorische Schärfe. Seine Entschiedenheit: Fünf Jahre Gefängnis ertrug er. Weil er widersprach.
Sieben Teile und dreiundzwanzig Kapitel umfaßt das Buch. Und keines ist überflüssig. Eines der vielen eindrücklichen Kapitel trägt den Titel: “Auf dem Festland ertrinken“ - und beschreibt besonders prägnant, was Krieg in Schützengräben heißen konnte: Die Gräben wurden bei Regen zu Flüssen, in denen man ersaufen konnte.
Hochschild beginnt sein Buch mit einem Friedhofsbesuch. Auf den Schlachtfeldern vor hundert Jahren. Und er endet mit einem „Imaginären Friedhof“, wo er all jener gedenkt, von denen er erzählte. Er kommt zu dem verblüffenden Schluss, wenn er den schottischen Historiker Ferguson zitiert: “Großbritannien hätte sich lieber aus dem Krieg heraushalten sollen. Das wichtigste Kriegsziel des deutschen Kaisers sei eine europäische Zollunion gewesen. Wo Deutschland dank seiner Größe geherrscht hätte. Hätte sich das von der heutigen Europäischen Union so stark unterschieden?“
Hochschild geht also weiter als Christopher Clark in seinen „Schlafwandlern“. Und so spannend und detailreich Clarks Buch auch ist - Hochschilds „Großer „Krieg“ liest sich mindestens so gut! Und es verdiente eben solch starke Beachtung!
Daher noch einmal zu den großartigen Charakterbeschreibungen: Rudyard Kipling, berühmt vor allem als der Autor des „Dschungelbuchs“, spielte eine unerfreuliche Rolle. Betrieb nämlich perfide Kriegspropaganda. Die er, nur abgemildert, weiterführte, als der einzige Sohn verschollen war. Hochschild verschweigt nicht, welchen Schmerz der Verlust für das Ehepaar Kipling bedeutete. Vor allem die Ungewissheit, die beide immer noch hoffen ließ. - Später dann deutete Kipling seine Schuld zumindest an.
In seinen “Epitaphs of the War“ heißt es:
„Wenn irgendjemand fragt, warum wir starben,
Sagt ihnen, weil unsre Väter gelogen haben.“
INFO: Adam Hochschild: „Der große Krieg“ Verlag Klett-Cotta, 2014