KrimiZEIT-Bestenliste in ZEIT und NordwestRadio für September2015, Teil 1
Elisabeth Römer- Ziemlich schnell durchgestartet ist der neue, nun bei Suhrkamp erschienene Roman von Friedrich Ani, vom Platz 3 der Augustliste auf den ersten Rang im September. Das hat Gründe. Es handelt sich um einen Roman, in den uns der Autor geschickt hineinzieht, indem er uns zum Mitwisser macht, uns die Gedanken des Ermittlers mitspüren läßt und uns fast Verantwortung übergibt, damit gerächt wird, was vor 20 Jahren passierte. Oder passierte gar nichts?
In diesem Spagat sind wir be- und gefangen, weil sich das Innere des schon pensionierten Kommissar Jakob Franck darum dreht, was eigentlich damals mit ihm geschah, als er sieben Stunden lang – oder war das in die Nacht hinein noch länger – der Mutter des 17jährigen Teenagers die Todesnachricht überbrachte: die Tochter hatte sich erhängt. Und Kommissar Franck, dessen Spezialität in der Arbeitsaufteilung im Revier geworden war, die Todesnachrichten zu überbringen, kann sich nicht erinnern, etwas ähnlich Somnambules je erlebt, ja mitgemacht zu haben. Und auch uns nimmt diese Nacht mächtig mit, zumal wir erfahren, daß sich diese Mutter dann auch umgebracht hat.
Somnambul wird ab irgendwann auch der Leser, denn die Geschichte um dieses Mädchen, dessen Selbstmord/Mord nach 20 Jahren aufzuklären, sich Franck irgendwann entschließt, mäandert in einem Ausmaß, daß wir auf vielen Nebenwegen dahinschlingern, während es doch eigentlich die Angehörigen sind, die ihre Kurven kratzen. Da ist zuvorderst der Vater, Ludwig Winther, der massiv darauf drängt, daß nach 20 Jahren – 20 Jahre! - aufgeklärt wird, was damals geschah. Warum nicht früher? Vielleicht auch, was wir dann erst später erfahren, weil der Vater verdächtig wurde. Verdächtigt am Mord, zumal aber an dem, was Mißbrauch zu nennen, ja nur ein schales Wort für ein Verbrechen an jungen vertrauensvollen Menschen ist. Was aber, wenn das nicht stimmt. Dann gibt es ja noch mehr Verbrechen, denn an solchen Vorwürfen, wenn sie nicht zutreffend sind, sterben Menschen. Sie werden innerlich ausgehöhlt. Ist dieser Winther so ein Mensch?
Es schüttelt auch unser Thermometer in dieser Aufklärung, den pensionierten Jakob Franck, hin und her und wir müssen mit ihm die Fieberkurven hoch und runterkrabbeln, die falschen Verdächtigungen, die richtigen Fragen, die unzureichenden Antworten und den Schleier der Erinnerung ertragen. Warum er so viel herausbekommt nach 20 Jahren Schweigen? Weil er die Leute dauernd fragt: „Möchten Sie mir etwas erzählen?“. Er ist der geschulte Zuhörer, weil er Geduld hat und Interesse auch. Das gibt es im wirklichen Leben seltener, manchmal Interesse, Geduld fast nie. Also sprechen die Leute. Aber dann muß man die Spreu vom Weizen trennen.
Soll das der Leser tun – oder nimmt einem Franck die Arbeit ab. Das sind Fragen, die das Lesen lebendig halten, weil diese düstere Geschichte eine Familie zeigt, sicher wie viele, wo sich die Angehörigen eigentlich nichts zu sagen haben, aber ein Ehepaar Kinder in die Welt setzt, die groß werden und das Binnengefüge der Familie keine Konturen erhält. Das gilt auch für Freundschaften. Das gilt auch für das Berufsleben. Erst recht für die Nachbarn. Und auch für den Zahnarzt. Ja, der Zahnarzt. Geschickt erzählt, Herr Friedrich Ani. Das wird um einen Beruf, dessen Vertreter man sich im überschaubaren Umfeld gut vorstellen kann, einfach als Spezie in die Welt gesetzt und entzündet unsere Phantasie genauso wie die seiner Umwelt. Besteht vielleicht unser Leben sehr viel mehr aus den Phantasien über andere als aus eigenem Erleben. Für das literarische Personal von DER NAMENLOSE TAG gilt das ganz sicher. Nein, dieses erhängte Mädchen und die gesamte Familie Winther wäre niemand, für den wir uns mit Mitgefühl interessieren täten. Aber Friedrich Ani erzählt so, daß wir nicht anders können, dabei aber todtraurig werden.
Fortsetzung folgt.
Die KrimiZEIT-Bestenliste September 2015
INFO I :
Die monatlich erscheinende Krimi-Bestenliste existiert seit März 2005, als sie erstmals auf der Leipziger Buchmesse, damals noch als KrimiWelt-Bestenliste vorgestellt wurde. Von März 2011 an wird sie regelmäßig an jedem ersten Donnerstag des Monats in der Wochenzeitung DIE ZEIT als KrimiZEIT-Bestenliste veröffentlicht.
Vorgestellt wird die KrimiZeit-JahresBestenListe
- im NordwestRadio am Donnerstag, den3. September2015 mit Tobias Gohlis gegen 9.20 Uhr sowie später in den Sendungen der „Buchpiloten2, nachzuhören unter
http://www.radiobremen.de/nordwestradio/serien/krimizeit/index.html
- für die Wochenzeitung DIE ZEIT am 3. September 2015 unter www.zeit.de/krimizeitbestenliste_2014
Monatlich wählen einundzwanzig auf Kriminalliteratur spezialisierte Literaturkritiker aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus der Masse der Neuerscheinungen die zehn Titel aus, denen sie viele Leser wünschen. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt inzwischen über 1800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem ersten Donnerstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.
Die Jury der KrimiZEIT-Bestenliste auf dem aktuellen Stand:
Tobias Gohlis, Kolumnist DIE ZEIT, DeKrPr*, Moderator und Jury- Sprecher der Krimiwelt
Volker Albers, Hamburger Abendblatt, DeKrPr*
Andreas Ammer, „Druckfrisch“, Dlf, BR, DeKrPr*
Gunter Blank, Sonntagszeitung Zürich
Thekla Dannenberg, Perlentaucher
Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, SWR
Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung
Lore Kleinert, Radio Bremen
Elmar Krekeler, Die Welt
Kolja Mensing, Dradio Kultur
Ulrich Noller, Deutsche Welle, WDR, DeKrPr*
Jan Christian Schmidt, www.Kaliber 38.de, DeKrPr*
Margarete v. Schwarzkopf, Freie Literaturkritikerin
Ingeborg Sperl, Der Standard - Wien
Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau, DeKrPr*
Jochen Vogt, NRZ, WAZ
Hendrik Werner, Weser-Kurier
Thomas Wörtche, Plärrer, culturmag, Dradio Kultur, Penser Pulp bei Diaphanes, DeKrPr*
In der Regel kommentieren wir die von der Jury neu plazierten Krimis. Alle weiteren plazierten Krimis der Vormonate entnehmen Sie bitte unseren Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie in der RUBRIK BÜCHER auf dem Titel oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Das Prozedere der Platzverteilung ist ganz einfach. Dreimal darf ein Kritiker aus der Jury einen Roman benennen. Wenn das gut verteilt ist, kann ein Buch einige Monate überwintern, dann hat es nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die jeweils Ende Dezember herauskommt und die wir für 2013 ebenfalls kommentierten.
JahresBestenliste 2013
http://weltexpresso.tj87.de/index.php/buecher/2343-leichendieb-der-brasilianerin-patricia-melo-von-tropen-bei-klett-cotta-auf-platz-1
INFO II :
Am 23. Juni teilte der Jurysprecher Tobias Gohlis mit:
Hannes Hintermeier (FAZ) und Elmar Krekeler (WELT) neu in der Jury der KrimiZEIT-Bestenliste
Seit Juni 2104 verstärken Hannes Hintermeier, Redakteur im Feuilleton der F.A.Z., und Elmar Krekeler, stellvertretender Feuilletonchef der WELT-Gruppe, die Jury der KrimiZEIT-Bestenliste.
Die Jury, die monatlich die zehn besten Kriminalromane aus der Fülle der Neuerscheinungen auswählt, besteht damit aus 19 Kritikerinnen und Kritikern, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz veröffentlichen.
Hannes Hintermeier, Jahrgang 1961, hat Anglistik und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert. Nach dem Staatsexamen 1988 absolvierte er die Deutsche Journalistenschule in München. 1990 bis 1996 war Hintermeier Literaturredakteur bei der AZ, dann in der Kulturredaktion der „Die Woche“ tätig. Seit 2001 ist er im Feuilleton der F.A.Z. Stellvertreter des Ressortleiters, aktuell Redakteur für „Neue Sachbücher“.
Seit Frühjahr 2014 betreut er mit weiteren Kollegen die FAZ-Krimi-Seite, die alle fünf Wochen versucht, „mit ausgewählten Beispielen der ganzen Bandbreite des Genres gerecht zu werden“.
Hannes Hintermeier über zwanzig Jahre Krimi-Erfahrung: "Am Krimi fasziniert mich die ungeheure Entwicklung, die das Genre in den letzten zwanzig Jahren weltweit gemacht hat. Der Krimi vereint einen Gegensatz, indem er gleichzeitig immer lokaler und universeller geworden ist. Ärgerlich finde ich manches buchindustrielle Kopier-Verhalten - merke: Erst wenn der letzte Serienmörder gefasst ist, werdet ihr merken, dass man
Hannibal Lecter nicht toppen kann."
Elmar Krekeler, geboren 1963, kam nach einem Studium der Musikwissenschaft 1989 als Redakteur ins Feuilleton der WELT, wo er sich zunächst der klassischen Musik widmete, bis er 1994 Literaturredakteur wurde. Von 2001 bis 2011 leitete er die „Literarische Welt“, wo er von 2005 bis 2010 mit verantwortlich für den Vorgänger KrimiWelt-Bestenliste war.
Seit 2012 schreibt er wöchentlich die Krimi-Kolumne „Krekeler killt“. Krekeler wurde 2004 mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet und ist derzeit stellvertretender Feuilletonchef der WELT-Gruppe.
Krimis umgeben ihn von Kindesbeinen an. Elmar Krekeler: „Mein Vater war ein geradezu manischer Krimi-Sammler. Wir hatten u.a. die Gesamtausgaben von Agatha Christie, Victor Gunn, Arthur W. Upfield und Edgar Wallace im Regal stehen. Meine mittlere Jugend bestand aus roten Goldmann-Krimis, die schleichend die "Fünf-Freunde"- und ???-Ära ablösten.“
Ich freue mich, dass diese beiden renommierten Literaturkritiker und Feuilletonisten die monatliche Suche der KrimiZEIT-Bestenlisten-Jury nach dem intellektuell anregenden, spannenden und literarisch reizvollen Kriminalroman unterstützen. Gute Kriminalliteratur ist für das Verständnis und die Gestaltung unserer schwer durchschaubaren Welt von existenzieller wie ästhetischer Bedeutung.