Die in Paris lebende deutsche Schriftstellerin Gila Lustiger analysiert den Terror von Paris


Heinz Markert


Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Aber sie spricht immer auch vom allgemeinen Terror, der den Hintergrund abgibt. Für ihre Schrift ‚Erschütterung‘ erhielt Gila Lustiger nun den Horst Bingel-Preis, einen Preis, der im Zweijahresrhythmus vergeben wird. Die essayistisch mäandrierende Schrift hat sich den Terror in Paris vorgenommen. Der Psychogenese der Täter spürt sie nach, wenngleich der Terminus Psychologie aus einer vergangenen Epoche stammt.


Ihre Arbeit ist durch die Methode des Aufgreifens und Bearbeitens der denkbaren Ursachen des Terrors zu einer wissenschaftlichen Studie im besten Sinn geworden, die zum Verstehen und Ergründen beiträgt, ohne Abschlusserklärungen zu liefern. Fakten sind gut, aber nicht alles. Was sich im Terror äußert, ist schwer nur erklärbar, einsehbar, abschlusshaft schon gar nicht. Der Versuch wagt sich in eine gleichsam transzendente Sphäre der absoluten Negativität des Weltlichen. Im Mittelpunkt stehen der Terrorakt Charlie Hebdo und die Terrorabfolge vom 13. September 2015.


Die blanke Wut hat Konjunktur


Wut ist die Zentralkategorie der Arbeit Gila Lustigers zur Sache des Terrorismus. Blanke Wut ist blind.-  Wut - und Trauer -, standen im Zeichen des Wirkens und Arbeitens von Horst Bingel, dem Namensgeber. Wut ist dichotomisch. Sie kann Produktionskraft wie Zerstörungskraft zugleich sein, nur um ein Jota verschoben. Dazwischen passt kein Blatt, so scheint es. Metallica bekundeten kürzlich in einer Bemerkung ihres Frontmanns zum neuen Album, dass die Wut immer eine kreative Kraft für ihre Arbeit gewesen sei. Wie ist es zu verstehen, dass Wut einerseits in Terror überspringt, im andern Fall aber auch eine kulturbildende Antriebskraft sein kann oder an ihr Anteil hat?


Gila Lustigers Text wurde zur Preisverleihung als Essay eingeführt, ein solcher ist sie aber nicht im eigentlichen Sinn. Sie hat einen Gegenstand, der sich dem Begriff, dem Begreifen entzieht, sie hat mit hohem Ertrag gesammelt, dann gesichtet und versucht zu analysieren, was da vor sich geht, mehr als es essayistisch üblich gewesen wäre. Sie schuf keine Sprachhandwerkskunst nach Art des Essays, kein Artefakt. Sie spekuliert nicht, sie verrätselt nicht. Es herrscht keine reizvolle Atmosphäre und Stimmung der Literatur. In behördlichen Ämtern, die sich planerweise mit dem Terror auseinandersetzen, müsste ihre Arbeit allgemein zum Lesen verordnet werden. Sie könnte Bürokraten zur Erkenntnis verhelfen.


Das Gift der Diskriminierung


Ausgrenzung und Diskriminierung, das ist einmal mehr noch ein spezifisch französisches Thema. Ist es einem übersteigerten ‚Franko-Rationalismus‘ zuzuschreiben, der in Diskussionen angesprochen wird? Die Absolventen der Grande ècoles, der Elitehochschulen, scheinen vortrefflich ungeeignet all jene, die “abgehängt und orientierungslos“ – also zunächst mal gescheitert - sind, mit Maßnahme-Kürzeln à la ZFU, ZUS, ZEP, REP, RAR oder RRS - Gila Lustiger nennt es ‚Newspeak‘ - wieder auf den Pfad der gesellschaftlichen Tugend zurückzudirigieren. Das Motiv einer denkbaren besseren Verfahrensweise klingt an mit Überlegungen zur Achtsamkeit, zur sorgsamen Arbeit mit Jugendlichen, zur sozialen Geduld, die immerhin recht gut bezahlt wird.


Es kann nicht ausreichen, nur zu fragen, wie es kommen konnte, dass „Bibliotheken zerstört“ und „Bibliothekare angegriffen wurden“, wie es möglich wurde, „dass ein kiffender Pizzalieferant und sein Tellerwäscher von Bruder in die Redaktionsräume einer Zeitschrift stürmten, um zwölf Personen zu töten“. Die blanke Wut, die aus Missachtung entsteht, hat eine unbegreifliche, eine geradezu transzendentale Dimension, weswegen sie als eine der unduldsamsten aller Religionen einherkommt. Und genau das ist das Themengebiet, zu dem Gila Lustiger ihren beachtlichen Beitrag leistet.


Einrenken


Die Literatur sitzt unter den Menschen und hat deren Stimmen, mit der Sprachform kommen Menschen immer neu zusammen, so wurde es zur Einführung am Abend der Preisverleihung ganz im Geist des Namensgebers Bingel gesagt. Die Literatur ist ‚einziges lebendes Register der Weltgeschichte‘. Und wäre dieses „Register“ nicht auch dazu geeignet, den Terror zu überflügeln?


Immer schon war Terror die Praxis unterschiedlichster Exponenten von ‚Geschichte‘. In Shakespeares ‚Der Sturm‘ spricht Prospero: `Hast du den Terror ordentlich organisiert‘? – Im Jahre 55 vor Christus sind durch einen ‚Regelbruch‘ Cäsars 2 Völker ‚verschwunden‘, ‚untergegangen‘: Usipeter und Tenkterer, acht Legionen, 430 000 Menschen, Frauen und Kinder – wahllos umgebracht. Das ist auch die Tradition, in der wir stehen, verleugnen wir dies, ‚wird es morgen nicht aufhören‘.


Gila Lustigers Text nimmt auch das Motiv auf: „Man müsste einfach verstummen, aber man muss weiter“. Es ist das Motiv eines Literaturagitators. Es geht darum, was einzelne tun können. Von Mehrheiten ist anscheinend kaum viel zu erwarten. Es reicht offenbar auch nicht, den Gefährdeten und in die Delinquenz Abrutschenden die französische Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 wie ein schlechthin Absolutes - wenngleich es das auch ist - um die Ohren zu hauen und es anschließend wirken zu lassen.


Nur schärfere Gesetze, rein die Ordnung - das Heil der Konservativen - muss seinen Zweck verfehlen. Es braucht Vermittlungsarbeit. Pädagogik und Sozialarbeit auf höchstem Niveau ist notwendig (und die Mittel hierfür). Schlicht gilt zwar der von Chirac ausgesprochene Grundsatz: „Wir bauen nichts Dauerhaftes ohne Respekt“. Er hielt nach den schweren Krawallen von 2005 eine beachtliche, von Verstehen und Erkenntnis geprägte Rede. Aber Konservative werden immer wieder zu einer Klasse, die ins Alttestamentarliche zurückfällt. Womit die Sozialarbeit täglich konfrontiert ist: mit Ausgrenzung, Benachteiligung und alltäglichem Rassismus und was denn nötig wäre, gab Chirac verständnisvoll wieder, sprach es im Begriff des „Gifts der Diskriminierung“ an. Aber dennoch blieb es bei der gängigen Praxis des repressiven Apparats vom Ämtern.


Das Feuer wurde beim sechsten Song eröffnet


Sehr nahegehend sind die Beschreibungen der Lebenslagen und Lebensgänge der Opfer, Anekdoten zu einzelnen Lebensverhältnissen, Familien mit Einwanderungsgeschichten sind auch darunter: „und sie alle waren irgendwann in ihrem jungen Leben in der Welt herumgereist und hatten sich für andere Kulturen und Gepflogenheiten interessiert“, heißt es. Der Terror (von Wut getrieben) tötet nicht nur andere, sondern ist auch süchtig danach, sich selbst den Tod zu geben, sich in die Luft zu sprengen, damit den Heldentod durch Eintritt in den Himmel zu ergattern - eine gewagte Phantasie - nicht unähnlich jenen Gymnasiasten übrigens, die mit 17 am Beginn des Ersten Weltkriegs begeistert in die Schlacht zogen, um gleich am nächsten Tag als ‘im Felde Gefallene‘ den Heimweg der Heldenmütigen anzutreten. Käthe Kollwitz hatte einen solchen Sohn, der Peter hieß. Und ähnlich versuchte auch der Nationalsozialismus die Todessehnsucht des Selbstmörders mit der finalen Konstruktion des Eintretens in die imaginäre Ruhmeshalle des Volkes zu verbreiten.


Info:
Verleihung des Horst Bingel-Preises für Literatur an Gila Lustiger, Freitag 18.11.2016 19.30 Uhr, Dantestraße 9, Literaturarchiv Goethe-Universität; die Laudation hielt Wolfgang Schopf vom Literaturarchiv, die Begrüßung sprach Barbara Bingel; Grußworte von Jürgen Bothner und Claus-Peter Leonhardt, ver.di Hessen, Laudatio durch Hubert Spiegel, FAZ; die Preisträgerin hielt die Dankensrede, Musik von Stephan Völker.
Gila Lustiger, ‚Erschütterung · Über den Terror‘, Berlin Verlag 2016, 159 S., ISBN 978-3-8270-332-3