Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 16. Februar 2017, Teil 9
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Roman vor dem Film müßte es richtigerweise heißen, aber zum heutigen Anlaufen des Films hat der Knaus Verlag sein schon 2004 erschienenes Buch von Gilles Paris neu aufgelegt – mit den animierten Kindern auf dem Titel und vielen Fotos aus dem Film von Claude Barras im Inneren.
Da wäre der Verlag ja mit dem Klammerbeutel gepudert gewesen, hätte er das
1. nicht gemacht, mit diesem schönen berührenden Film auch das Buch neu aufzulegen
2. nicht den neuen Titel zu übernehmen, wo aus AUTOBIOGRAPHIE EINER PFLAUME
nun MEIN LEBEN ALS ZUCCHINI wurde, ein Spitzname für ein Kind, der von der Frucht zum Gemüse geht.
Darüber haben wir uns echt Gedanken gemacht, diese Namensänderung für den eigentlichen Helden der Geschichte, den neunjährigen Icare, der aber nur PLAUME in der früheren Romanform heißt und nun also ZUCCHINI im Film und auch dem Roman zum Film genannt wird. Bei PFLAUME, finden wir, schwingt die herabsetzende Meinung dessen, der einen anderen so anredet, mit. „Du Pflaume!“ hat semantisch eine ganz spezielle Bedeutung, daß man etwas nicht kann, unfähig ist. Aber was bedeutet Zucchini? Eben nichts, kann man erwidern, diese Gemüseart, die heute in jedem Laden verfügbar ist, die haben noch vor wenigen Jahrzehnten die meisten Deutschen nicht einmal gekannt. Grün und länglich, einer kleinen Gurke ähnlich, aber ganz anders im Geschmack, wobei einem bei GURKE auch sofort einfällt, daß „Du Gurke!“ zu sagen, auch einen negativen Beigeschmack hat.
Nein, die Benennung als Zucchini ist für unsere Ohren mit nichts anderem besetzt, als daß es Fremdländisch klingt, fast exotisch, auf jeden Fall nach etwas, was nicht 08/15 ist und irgendwie aus dem Rahmen fällt. Und schon sind wir bei Icare, genannt Zucchini. Aber, wie ist das schwer, nach dem Schauen des so bildintensiven Film, wo die kleinen Kerlchen nach der eigentlich japanischen Animeform: riesengroße Augen, kreisrunde Gesichter auf einem kleinen Körper haben, sich nun beim Lesen die Figuren vorzustellen. Das ist sonst ja das Schöne beim Lesen, daß die eigene Phantasie die handelnden Personen im Buch noch einmal neu erschafft, weil – wie Marcel Proust sagt – jeder Leser der Leser seiner selbst ist. Das ist natürlich schwer, wenn einen der Film-Zucchini so in seinen Klauen hat. Schwer, aber nicht unmöglich.
Der Icare aus dem Roman ist nämlich ein altkluges, gleichzeitig naives, plapperndes Kind und verrät uns so viel über die Welt, wie es in einen einzigen Film gar nicht hineingegangen wäre. Überlegt man es sich richtig, dann ist das Buch so viel dichter, weiter, umfassender und mit so viel mehr Gedanken und Gefühlen angereichert als der Film! Nur – ohne diesen Film hätten wir das Buch nie zur Hand genommen. Und zudem kann man deutlich feststellen, daß der Gehalt des Romans in genau die Richtung geht, die der Film ästhetisch und ethisch auf reduzierende, aber durchschlagende Weise verkörpert: wie aus Einsamkeit Gemeinsamkeit wird und daß aus Schlechtem Gutes entstehen kann, weil es in allem auch darauf ankommt, was ich daraus mache. Nur deshalb kann Icare laut sagen: „Nicht jeder hat das Glück ein Waisenkind zu sein“.
„Seit ich denken kann, will ich den Himmel umbringen wegen Mama...“, so beginnt es und mit dem Neunjährigen lernen wir sein Zuhause kennen, in dem er äußerst liebevoll mit seiner ihn vernachlässigenden und immer Bier trinkenden Mutter, die vom Mann einer anderen wegen verlassen wurde, umgeht, aber dann den Äpfeln auf dem Speicher seinen Kindeskummer erzählt. Das hat nichts von Larmoyanz, was bei einem solchen Thema ja naheläge, sondern bringt in jeder Zeile Poesie und Weltenliebe zum Ausdruck, wozu die phantastischen Elemente gehören, wie Icare die Pistole findet und sich zum Waisenkind schießt.
Er weiß schon, daß er versehentlich was Schlimmes gemacht hat und wartet auf Strafe, als er bei der Polizei sitzt. „Die ganzen Blicke machen mir ein bißchen Angst, und ich zittere und höre eine laute Stimme, die sagt: 'Lassen Sie mich mit dem Jungen allein, Sie sehen doch, daß er unter Schock steht.'" Es ist der Polizist Raymond, der ruhig und freundlich ist und dafür sorgt, daß Zucchini in ein ländliches Waisenhaus kommt, was erst für den Jungen eine Befreiung ist und dann doch noch getoppt wird, als Raymond den Jungen und mit ihm Camille zu sich holt und wie den eigenen Sohn behandelt, der im Buch als Victor auch vorkommt und sich äußerst gut mit den zwei neuen Geschwistern versteht. Aber da sind wir schon am Schluß und dazwischen liegen die ganzen emotionalen Prozesse und sozialen Lernerfahrungen, die das Buch so reich machen und einen beim Lesen einfach anrühren.
Vielleicht ist das Wunderbare am Buch, was der Film nachschöpft, daß alles menschlich verständlich bleibt, daß die normalen Konflikte, die einfach durch Noch-Nicht-Kennen und nicht zu wissen, welchen Stand ich in einer Gemeinschaft einnehme, zwangsläufig entstehen müssen, so einsichtig erzählt werden, daß wir beim Lesen und beim Zuschauen immer beide Personen verstehen und immer zu beiden halten, nein, nicht ganz, Zucchini geht schon vor, aber auch für den Kontrahenten bleibt Sympathie, weil wir seine Motive der Renitenz verstehen. Das gilt in erster Linie für Simon, der die Rolle des Schurken in der kleinen Gemeinschaft der Waisenhauses übernimmt. Hauptsache, er wird wahrgenommen. Er ist die Provokation in Person – und wird doch von Zucchini ausgebremst und zum Freund.
Da ist Ahmed, der Wolkengucker, der immer ein anderer ist und sich in seinen Verkleidungen als Dinosaurier oder Roboter selbst nicht mehr erkennt. Der schräge Typ mischt alle anderen auf. Geradezu verehrt wird er von Jujube, der ständig ißt, auch wenn es Zahnpasta ist. Das sind die Figuren aus dem Film, aber es gibt mit den Brüdern Boris und Antoine Chafouin und anderen weit mehr Kinder im Roman als im Film, denn vierzig Kinder leben im Heim und in der Schule gibt es weitere Kinder dazu, die nicht im Heim leben. Normale Verhältnisse also. Der Film aber braucht die Reduktion und damit Zuspitzung auf die wenigen Personen, um deren Schicksale zu vertiefen.
Aber erst die Mädchen! Alice ist einfach zu schüchtern und Béatrice, das kleine schwarze Mädchen, erwartet im Film bei jedem Klingeln ihre Mutter, die nach Afrika abgeschoben wurde, aber im Buch hat ihre Mama, die im Heim nur am Schluß auftaucht, noch dazu mit der Pistole in der Hand, die Polizei geholt, als der Vater immer am Mädchen rumknutschte, was im Film das Schicksal der überängstlichen Alice ist. Das ist alles aber nicht so wichtig, denn viel wichtiger ist, daß alles anders wird, als Camille erscheint, wie eine dea ex machina bringt sie die Puppen zum Tanzen. Irgendwie gelingt es ihr, aus jedem sein Bestes herauszuholen und unaufhörlich sprudeln ihr die Ideen von den Lippen, was man machen kann und wozu das Leben genutzt werden kann, damit alle glücklich werden.
Doch dieses Glück wird getrübt durch die geldgierige Tante Camille (Ida im Film), die Camille des Pflegegeldes wegen zu sich holen will. Und nun wird ein Kinderthriller aus dem Roman. Denn der immer klüger werdende Zucchini kann diese Absicht mit List vor dem Familiengericht vereiteln und diese Ida bloßstellen! Echt mit Schmackes.
Auf all die anderen Personen, vor allem das Lehr- und Erziehungspersonal sind wir jetzt nicht eingegangen. Sie machen aber den Kohl erst fett, weil wirklich jede Figur ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Verhaltensweisen mitbringt und wir empfinden, gerade weil alle diese Menschen so unterschiedlich sind, aber sich respektieren, kommen sie so gut miteinander aus.
Was eine Allerweltsweisheit ist und oft genug als leeres Geplapper im Raum steht, wird hier ohne Zuckerguß und unechte Sentimentalität wundersam erzählt.
Info:
Gilles Paris, Mein Leben als Zucchini, Das Buch zum Film, Knaus Verlag 2017