Gary Victors  Inspektor Dieuswalwe Azémar schlägt in Haiti wieder zu

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Wer Gary Victors Helden aus SCHWEINEZEITEN (2014) und SORO (2015) aus dem Verlag Litradukt kennt, dem muß man gar nichts weiter sagen, der wird ins nächste Buchgeschäft rennen und sofort den dritten Band dieses haitianischen Don Quijotte kaufen.


Aber für die anderen doch ein paar mehr Worte, auf daß sie dasselbe tun!

Zuerst einmal ist Zurückrudern angesagt: Nein, ein echter Quijotte ist er nicht, dieser Dieuswalwe Azémar, der, wie bekannt, seinen französischen Vornamen Dieusoitloué - der „Gott sei gelobt“bedeutet - mit den zwei 'w' kreolisiert hat und damit seine Wurzeln in der haitianischen Kultur betont. Denn anders als der Spanier, der in den veränderten Zeiten sein mittelalterliches Rittertum hochhielt, lebt der Inspektor im Hier und Jetzt in Haiti, sieht also die Realitäten und spielt diese gekonnt gegeneinander aus, aber tief im Herzen ist er eben doch ein Romantiker, unser Gottlob, der seine Kraft und seine Intuition auf das Richtige richtet, dabei aber mindestens so viele Fehler macht wie besagter Don. Aber – bisher – ist am Ende doch immer das Kalkül von Azémar aufgegangen. Und darum lesen wir Gary Victor.

Schräg, ist gar kein Ausdruck für das, was sich in  SUFF und SÜHNE alles ereignet. Ganz gut, gleich mit der literarischen Einordnung vom Magischen Realismus eines Gabriel García Marquez - der übrigens auch ein politischer Journalist war - anzufangen, wo nicht die Logik, sondern die Psychologik ausschlaggebend für das Geschehen ist. Und diese Sühne hier hat auch nichts mit SCHULD und SÜHNE des grandiosen Dostojewski zu tun, was wir nur deshalb anführen, weil wir ja seit Jahr und Tag Wert darauf legen, daß sich unsere These, daß der bürgerliche Roman des 19. Jahrhunderts, der insbesondere in Rußland und Frankreich die jeweilige Gesellschaft spiegelte, heute in dieser Funktion dem Krimi zukommt. Nein, nicht jedem, aber doch in sehr viel mehr Krimis, als dies im heutigen Roman der Fall wäre, wo es fast immer um einzelne Menschen geht, ihr Großwerden, ihre Liebesprobleme, überhaupt Beziehungsprobleme.

Was liest Azémar eigentlich? Welche Romane? Darauf müssen wir beim Wiederlesen einmal achten, denn jetzt muß erst einmal die Handlung her, die in SUFF und SÜHNE so was von unglaublich ist, daß wir ihr Wort für Wort glauben. Bereits die ersten Seiten sind hinreißend. Schon wieder liegt der Inspektor im Bett. Auf der ersten Seite fordert er sofort unsere Erinnerung an das letzte ImBettLiegen heraus, als nämlich beim großen Erdbeben das Hotel zusammenstürzte und die Decke mit Wucht auf seinem Bett landete, er aber nur deshalb überlebte, weil seine Geliebte, die Frau des Chefs, auf ihm lag. Na klar, die war tot. Und daran erinnert er sich, als er jetzt aufwacht, sagt der Erzähler: „Es lag kein Frauenkörper als Schutz auf ihm.“

Und auch sonst kein Schutz, denn er ist den Dämonen hilflos ausgeliefert, die aus allen Ritzen und Spalten seiner Phantasie krabbeln, die sein Delirium, seine Fieberphantasien ihm vorgaukeln. Azémar ist auf Entzug. Dienstliche Anweisung. Sonst läuft nichts mehr. Natürlich nützt Autor Gary Victor die derzeitige Schwäche des Inspektors aus und läßt ihn hellsichtig im Nirwana von Leib und Seele stranden. Azémar äußert alle Ängste und kommt zu hellsichten Schlüssen, wie das so ist, losgelöst von der Realität.

Diese Wirklichkeit dringt zwar immer in seine abgehobene Welt ein, aber er hat höchste  Schwierigkeiten, die Tarantel als eingebildete Verfolgerin, die vor der Tür stehende brasilianische Schönheit aber als echt zu erkennen. Wie gut, daß er das im letzten, aber wirklich dem allerletzten Moment immer erkennt und sich den ganzen Krimi über immer wieder aus den Fallstricken seiner Gegner befreien kann. Merksatz aus der Kleinbürgerweisheit: Nicht jeder, der eine Pistole auf Dich richtet, ist Dein Feind. Nicht jeder, den Du liebgewonnen hast, ist Dein Freund.

Damit ist zum einen die scharfe, und nun tote Brasilianerin gemeint, zum anderen sein Freund, der Dichter Pierre Quartier, auch tot, auch erschossen. Der Vater der Schönen war damals der brasilianische Kommandant der UN-Truppen, die Haiti befrieden sollten und half ihm in jenen Tagen nicht, den Freund zu retten. Auf jeden Fall wird dem Inspektor durch Fotos, die nicht geschönt sind, bewiesen, daß er diesen Mann, den Vater der Brasilianerin, erschossen hat.

Dabei war das doch einer, der gegen die Korruption auch aus den eigenen Reihen vorging. Weshalb hat er ihn erschossen? Da stimmt was nicht. Das kann nicht sein. Nie täte Azémar so etwas. Aber Bilder lügen nicht. Oder? Auf jeden Fall kann sich  Dieuswalwe nicht länger um seinen Entzug kümmern, er muß handeln. Die Situation verschärft sich durch die reale Gefahr, daß die Halunken auf der anderen Seite - ach was, Seiten, denn seine eigene Dienststelle und die ganze Polizei gehören auch dazu – seine Tochter Mireya entführen wollen. Um ihn in der Hand zu haben. Um ihn willfährig zu machen. Denn nach wie vor ist er der einsame Streiter für Wahrheit und für Gerechtigkeit auch.

Was den schrägen Typen so interessant macht, sind seine Macken – oder wie soll man das nennen, daß in ein und demselben Menschen die Rationalität genauso zu Hause ist und wie dann doch einheimische Sitten von Spuck und Magie Macht über ihn gewinnen, wenn er sich vom Magier im schmerzhaften Prozeß ein Amulett unter die Haut schieben läßt. Stimmt, er ist in höchster Not. Ist das, wie wenn man in aussichtsloser Situation zu einem Gott betet, an den man nicht glaubt? Und eben auch Überreste der haitianischen Kultur?

Wir folgen vielen einzelnen Handlungssträngen, von denen einer die Entführung des Industriellensohns ist, was nicht unwichtig ist. Viel wichtiger aber, als die einzelnen Stränge, ist die virtuose gArt, wie sie Gary Victor am Schluß zusammenführt. Dann ergibt alles einen Sinn, die Welt, zumindest Haiti  ist durchschaubarer geworden, einen Deut besser auch und  Dieuswalwe Azémar hat dies bewirkt! Trotz des SORO oder etwa schon wieder wegen des SORO? Das wird die Fortsetzung zeigen, wie und ob der Entzug nach dieser heißen Phase kalt weitergeht.

Fortsetzung folgt


Foto: Cover

Info: Gary Victor, Schuld und Sühne,  160 Seiten, Aus dem Französischen von Peter Trier, Verlag Litradukt 2017 ISBN: 978-3-940435-20-0


Autorenportrait des Verlages

Gary Victor, geboren 1958 in Port-au-Prince, studierter Agronom, gehört zu den populärsten haitianischen Gegenwartsautoren. Außer Romanen, Erzählungen und Theaterstücken schreibt er auch Beiträge für Rundfunk und Fernsehen, die in Haiti regelmäßig für Aufregung sorgen. Einige seiner Gestalten sind zu feststehenden Typen geworden. Im deutschsprachigen Raum wurde er durch die Krimis Schweinezeiten und Soro bekannt, die sich beide auf der Krimibestenliste der ZEIT sowie auf der Litprom-Bestenliste Weltempfänger platzieren konnten.  Seine drastischen Schilderungen gesellschaftlicher Missstände stellen ihn in die Tradition der Sozialromane des 19. Jahrhunderts und machen ihn zum subversivsten Gegenwartsschriftsteller Haitis. Er wurde mit mehreren Preisen, darunter dem Prix RFO ausgezeichnet.