Der tiefe Fall des AfE-Turms in Frankfurt am Main
Manfred Schröder und Felicitas Schubert
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Nur zehn Sekunden und dann ist alles vorbei. Das ist vielleicht die erschütterndste Erkenntnis dieser eigenartigen und wirklich tief bewegenden Sprengung des Turmes, der als ELFENBEINTURM gekennzeichnet, einst mit 116 Metern hoch in den Himmel hinaus-und das Licht von oben für die Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften nutzen wollte.
So sehr wir, wie alle Frankfurter, die mit diesem Koloß zu tun hatten, ihn ob seiner dort vermittelten Inhalte so liebten, wie wir ihn haßten, wenn wieder mal der Aufzug nicht kam und die Verspätung in die Seminare vorprogrammiert war, so sehr eigentlich das Inhaltliche an diesem Vorgang sich im Gemüt nach vorne drängt, so sehr interessiert die Leut das programmierte Zusammenfallen des Turms mit Hilfe von Hunderten von Sprengkapseln. Kommt gleich.
Nur noch ein Wort zur Melancholie, die sich einstellt, wenn ein 1972 errichteter Turm schon 42 Jahre später zu Staub wird. Und zwar in den berühmten zehn Sekunden, während sein Bau ganze drei Jahre dauerte. Das sagt doch alles. Das ist doch die abschließende Metapher: allein diese zeitliche Diskrepanz zwischen Bau und Sprengung. Nun gut, die Schuttmassen müssen auch noch drei bis vier Monate lang beseitigt, bzw. als neue Kellerfundamente der auf dem Schlachtfeld errichteten neuen Gebäude hergerichtet werden, aber dennoch bleibt der Vorgang der zehn Sekunden unerhört!
In Frankfurt kam hinzu, daß die auf 10 Uhr angesetzte Sprengung, weit über drei Minuten, exakt 3 Minuten und 52 Sekunden, später in Gang kam. Dazu hatten die nach polizeilicher Zählung rund 30 000 gekommenen Schaugäste viele Kommentare. Viele auf Hessisch. Das war wirklich ein Volksfest rund um den Turm – immer mit dem gehörigen Sicherheitsabstand. Versteht sich. Wer die Fernsehbilder anschaute, konnte es nicht fassen, wie dicht das große und hohe Hotel MARRIOTT am zu sprengenden Turm steht. Daß dort für 199 Euro eine Übernachtung mit Frühstück an diesem Wochenende der Hit war, versteht sich von selbst und zwei, die wir dort trafen, waren so begeistert, daß sie sich Sprengungen jetzt in allen Orten der Welt anschauen wollen. Warten wir also auf den Sprengkatalog für Eventreisen, so wie es die zu Opernfestivals gibt.
Im Ernst. Zwischen der Apokalypse, wie sie vor allem das Hollywoodkino zu zeigen liebt, und solch einer Sprengung, die genau nach Plan verläuft, indem die äußere Fassade des Gebäudes wie vorgesehen nach unten rauscht und der innere Kern sich aufspaltet, der kürzere nach links, der längere nach rechts wankt und so alles am Schluß auf der Turmplattform unterkommt, zwischen Leinwand also und dem Fernsehbild 'in echt', ist kein Unterschied mehr. Und wir glauben den Strategen nicht, die da lächelnd wegdiskutieren, daß beim Fall des Uniturms nicht auch der ganz anders zustandegekommene Fall der beiden Türme von New York im Gemüt wiederaufscheint. Diese Bilder gehören zum kulturellen Gedächtnis unserer Generationen.
Aber ist ja gut, bleiben wir bei den nackten Realitäten. Im Vorfeld war über die Gefahrenmomente wenig diskutiert worden. Es wurde gehandelt. Alle in der Nähe stehenden Häuser mit Wohnungen hatten für die Bewohner die Auflage, Fenster und Türen zu schließen, auf keinen Fall sich auf den Balkonen oder dem Dach aufzuhalten. Einige Häuser wurden auch evakuiert. Im leerstehenden Haus, das nur zehn Meter vom gesprengten Turm entfernt steht und ebenfalls abgerissen werden soll, sind gerade mal vier Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Übrigens erwischte es auch eine große Scheibe im Marriotthotel, aber das war im Bereich ohne Publikum und das Hotel verwies darauf, es habe sich um eine alte Scheibe und Einfachverglasung gehandelt. Kollateralschäden nennt man so etwas, die aber bei dieser Sprengung unterdurchschnittlich blieben.
Überdurchschnittlich war die Präzision. Der Chef der Frankfurter Wohnbaugesellschaft Frank Junker ist der Bauherr der Sprengung. Die Frankfurt Holding hatte nämlich vor drei Jahren den Turm gekauft und sich zur Sprengung den bayerischen Sprengmeister Eduard Reisch geholt, der nach anfänglicher Reputation allerorten, dann auf einmal ein Gerüchle entwickelte. Zwei Vorgänge waren es, die man ihm anlastete, was die Frankfurter mit Hinweis auf die exakte Planung an diesem Sonntag nicht weiter diskutierten.
Schnee von gestern auch dieses. Denn nach dieser Sprengung wird auch all den anderen Sprengmeistern sicherlich der Hof gemacht werden. Diesen Universitätsturm zu sprengen, war immerhin die in Metern höchste Sprengleistung Europas. Und im gewissen Sinn ist der Verlauf der Sprengung das Gegenteil dessen, was über 40 Jahre Lehrstoff der Seminare im Turm waren. Denn es sollte nicht zu glatt gehen, der Mensch nicht immer die an ihn gestellten Erwartungen von Gesellschaft und Oberen erfüllen, der Mensch sollte nachdenklich sein, sich Zeit für eigene Gedanken nehmen, seine eigenen Erkenntnisse gewinnen und überhaupt sein Handeln reflektieren und das der Gesellschaft mit.
Und da kommen so knapp eintausend Kilogramm Sprengstoff daher, die geschickt über die Fassade und den inneren Kern aufgeteilt werden, und dann fällt erst das Außengerüst des 116 Meter hohen Gebäudes glatt nach unten und dann teilt sich der innere Kern in einen kleineren unteren, der nach Norden fällt und einen größeren, man spricht von 65 Metern, der exakt nach Süden kippt. Diese Präzision läuft einem eiskalt den Rücken hinunter. Und auch wenn zehn Sekunden sehr kurz sind, bleiben dann die Staubwolken sehr viel länger und die Erinnerung an die zehn Sekunden nochmal sehr viel länger.
Zusätzlich kann man diese zehn Sekunden anschließend in Tausenden von Handys ein weiteres Mal ablaufen sehen und dadurch, daß fast jeder ein wenig einen anderen Blickwinkel hat, kommen tatsächlich immer leicht veränderte Bilder heraus. Hat sich eigentlich kein Künstler des Sprengprojektes von vorneherein angenommen? Wäre schade, denn das Metaphysische am knallharten Vorgang war mit Händen und Füßen zu greifen und mit dem Herzen zu sehen.