Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 21. September 2017, Teil 4
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ist Ihnen schon aufgefallen, wie stark die Literaturverfilmungen zunehmen? Sicher, einen Gutteil gab‘s immer, aber so viele wie gegenwärtig noch nie. Und sogar der Buchmessenchef Juergen Boos wies darauf hin und betonte, daß mit dem Sog der Fernsehserien sich das noch einmal steigern werde.
Dieser Roman von Jeannette Walls auf jeden Fall ist ein internationaler Bestseller – und die Verfilmung ist trotzdem was geworden, will man eigentlich hinzufügen. Gelesen hatte ich den Roman nicht, internationale Bestseller müssen für mich nicht sein, aber dieser Film berührt. Das hat schon einmal damit zu tun, daß Filme über Kindheiten immer die eigene in den Blick geraten lassen und grundsätzlich das Wunder betonen, wie Kinder unter den abenteuerlichsten Umständen groß werden, also eine Anpassungsfähigkeit oder einen Widerstandskraft gegenüber ihrer Umwelt erreichen – und manchmal beides auf einmal, wie hier.
Das mit den abenteuerlichsten Umständen: so geht es auch der kleinen Jeannette, die hungrig ist und von ihrer malenden Mutter die Frage hört, ob sie, die Malerin und Mutter, jetzt tatsächlich Essen kochen soll, das im Nu verzehrt ist oder weitermalen soll, ein Bild, das für die Ewigkeit existiert. Keine Frage. Weitermalen. Und der Hunger des Kindes? Jeannette ist mit drei Jahren groß genug. Sie macht sich selber was, na klar, Hot Dogs in siedendem Wasser, das kann sie, dazu muß sie nur die Flamme anstellen. Den Segen der Mutter hat sie.
Aber wie bei PAULINE in Heinrich Hoffmanns STRUWWELPETER gerät was anderes in Flammen:
Doch weh! die Flamme fasst das Kleid,
Die Schürze brennt; es leuchtet weit.
Es brennt die Hand, es brennt das Haar,
Es brennt das ganze Kind sogar.
Hier ist es das rosa Kleidchen, das anfängt zu brennen und die Gardine schnell erfaßt... Jeannette wacht in der Klinik wieder auf. Gerettet wird sie, aber die Brandwunden behält sie und auch die Erfahrung, daß sie sich selbst vertrauen muß, nur sich, aber viel lernen muß, um keine Fehler mehr zu machen. Aber sie lernt noch etwas anderes: Im Krankenhaus zu sein, ist nicht schlimm, denn hier gibt es genug zu essen!
Und dann lernen wir die Familie kennen – mit ihren Stärken und Schwächen. Zu den Stärken gehört das tiefe Zusammengehörigkeitsgefühl. Denn als in den Krankenhausfluren ein Wolfsgeheul ertönt, weiß nur Jeannette sofort was Sache ist: ihre Familie kommt. Das Geheimzeichen. Und wie gut Regisseur Destin Daniel Cretton die Bande dieser Familie sinnlich zu verstehen gibt, zeigen diese Szenen. Diese verschworene Gemeinschaft und die Wärme, die von ihr ausgeht, die insbesondere der Vater Rex (Woody Harrelson) ausstrahlt. Er ist dann aber auch eiskalt, als er, um die Krankenhausrechnung nicht bezahlen zu müssen – was er gar nicht gekonnt hätte, denn ausreichendes Geld gibt es nie in dieser Familie! - als er deshalb seine eigene Tochter aus dem Hospital entführt.
Und auch das ist ein Gemeinschaftsunternehmen: denn der kleine Bruder simuliert im Flur des Krankenhauses einen epileptischen Anfall, so gut, daß alle darauf reinfallen und sofort Schwestern und Ärzte...währenddessen der Vater seine Tochter packt und ins Auto schleppt, wo die Mutter (Naomi Watts) mit laufendem Motor wartet und der kleine Junge blitzschnell gesund wird und es gerade noch in den Wagen schafft, ehe alle mit brausendem Gelächter davonfahren.
Der Film ist voll von geglückten Szenen, die immer beides vermitteln: die absolute Verantwortungslosigkeit der Eltern – dauernd muß die Familie umziehen, und hinterläßt verbrannte Erde – und die wunderbare Leichtigkeit in der die Kinder als geliebte Wesen in fast grenzenloser Freiheit groß werden. Natürlich wertet man während des Schauens immer wieder: was ist wichtiger, Liebe oder ...ja, was wäre das Gegenteil. Sicherheit? Nein, das trifft es nicht, denn sicher fühlen sich die Kinder ja. Sie werden nicht zu einem ‚normalen‘ Leben, zu Staatsbürgern erzogen, das wäre es und sie bleiben zudem emotional auf die Familie bezogen und haben einfach zu wenig geglückte Sozialkontakte mit anderen.
Aber das stimmt auch nicht, denn diese Jeannette, aus deren Erwachsenensicht wir das alles erleben, weshalb Brie Larson auch die Hauptrolle spielt, wird ja eine funktionierende Perle der Gesellschaft, der schreibenden Zunft, wenngleich der Klatschpresse. Und darum ist der Anfang wirklich gleich ein Höhepunkt: Sie hat den Aufstieg geschafft, beruflich und mit fadem Ehemann in der Park Avenue zu Hause (hier im Bild), mitsamt edler Einrichtung. Und als sie zu einer angesagten Party im Taxi unterwegs ist, sieht sie ihre Eltern, wie diese als Obdachlose im Müll wühlen, auf der Suche nach Eßbarem.
Sie schämt sich und sie schämt sich gleich doppelt, denn sie schämt sich zum einen, daß ihre Eltern nicht ablassen, so zu leben und sie niemandem davon erzählen kann, weil sie dann gesellschaftlich erledigt ist, und sie schämt sich, daß sie nicht anhält und die Eltern begrüßt. Aber das ist der Auftakt für sie, sich dann um beides zu kümmern und wir erfahren im Film sehr vieles über unterschiedliche Lebensmodelle. Doch, rührselig ist es dann immer wieder auch. Aber das muß so sein, damit deutlich wird, daß diese Familie zwischen Glück und schrankenloser Freiheit und absoluter Verzweiflung und Verwahrlosung immer hin und hergeschüttelt wird, was sich auf die Kinder bezieht, denn die Eltern leben – wie oben ausgeführt – ihr Leben weiter, auch als die Kinder längst in die bürgerliche Welt ‚abgehauen‘ sind, so würden die Eltern sagen.
Das Starke am Film ist nämlich, daß diese Eltern, insbesondere die Mutter, ihren Lebensstil beibehalten wollen und alle Avancen der Tochter, sie zu versorgen, nicht zulassen. Und die Ambivalenz der Gefühle der Tochter, den Eltern nicht helfen zu dürfen und sich ob ihrer Tätigkeit und ihres Lebensstils sogar verachtet zu fühlen, das spürt man auch. Ein sehr interessanter Film!
PS. Das Schloß aus Glas verspricht der Vater immer wieder, der Tochter zu bauen, genauso wie er die Sterne vom Himmel holen will - für sie.
Fotos: © Verleih Studiocanal
Info:
Darsteller: Brie Larson, Naomi Watts, Woody Harrelson