f doc leipzigZwischen politischer Ambitioniertheit und historischer Rückschau

Kirsten Liese

Leipzig (Weltexpresso) - Die Zeiten, in denen harte Debatten über die für geboten gehaltene Objektivität im Dokumentarfilm entbrannten, sind vorbei. So wie er sich im vergangenen Jahrzehnt in seinen narrativen Strukturen immer mehr dem Spielfilm angeglichen hat, haben sich unweigerlich subjektive, persönliche Sichtweisen durchgesetzt, die 1955 noch undenkbar waren, als in Leipzig das älteste Dokumentarfilmfestival ins Leben gerufen wurde.

Leider wurde der mit dieser Entwicklung einhergehende erhöhte künstlerische Anspruch just in der Leipziger Jubiläumsausgabe trotz einer stolzen Zahl von 3000 Einreichungen nur in vereinzelten, ausgewählten Arbeiten sichtbar.

Oft fehlte es an einer erkenntnisorientierten Dramaturgie. Der portugiesische Wettbewerbsbeitrag Raw, mit einer Laufzeit von 150 Minuten ein regelrechter Koloss, gibt dafür ein geradezu extremes Beispiel als ein ausschweifendes Brainstorming zu menschlichem Leid in allen Lebenslagen. Es gibt viele, darunter im Einzelnen auch durchaus bewegende Dialoge in diesem weiten Bilderbogen, in dem Menschen in ausweglosen Situationen mit Sozialarbeitern, Psychotherapeuten, Ärzten, Altenpflegern oder Juristen ihr Elend erörtern und meist vergeblich nach Auswegen suchen. Aber als wäre das nicht alles schon viel zu viel, fügt Carmona zwischen die schwer verdaulichen Gespräche in sehr freier Assoziation noch Szenen aus dem Schlangenkäfig eines Zoos, Momente aus einem Boxkampf, Impressionen aus einer Orchesterprobe und eine schwere Geburt.

Andere Produktionen wie zum Beispiel das polnische Bodybuilder-Porträt Call Me Tony oder das amerikanische Silicon-Valley-Essay A Strange New Beauty kranken an profanen Geschwätzigkeiten, pseudo-philosophischem Geschwafel und fehlender Substanz.

Besser bestellt war es in Leipzig um den politischen Film. Der seit drei Jahren amtierenden finnischen Festivalleiterin Leena Pasanen war es ein großes Anliegen gewesen, sich mit vielfachen politischen Kommentaren gegen den Rechtsruck in Europa zu positionieren. Das ließ sich nicht übersehen.

Einen besonders mutigen Beitrag dazu leistet Sabine Michel, die in der MDR-Produktion Montags in Dresden drei Pegida-Demonstranten porträtiert. Die Regisseurin will die Gründe für das Denken und Handeln der Islamkritiker erforschen und begnügt sich dabei keineswegs mit simplen Antworten. Wiewohl sie sich selbst zwar sicherheitshalber mit knappen Kommentaren aus dem Off von ihnen abgrenzt, unternimmt sie nicht den Versuch, sie in die Naziecke zu stellen.

Schließlich geht es darum, in einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft wieder einen Dialog zu eröffnen und das kann nur gelingen, wenn man sich gegenseitig zuhört und in eine sachliche Argumentation eintritt. -Vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein, kann man nicht umhin, den Protagonisten zuzugestehen, dass sie Missstände und Probleme in multikulturellen Gesellschaften benennen und Fragen aufwerfen, vor denen sich die Politik hilflos wegduckt. Bei aller Kritik, die in Leipzig unter den Gegnern der islamkritischen Bewegung bei der Vorführung im Ostbahnhof laut wurde, versammelten sich doch immerhin Anhänger beider Seiten im Publikum. Das ist doch ein Anfang.

Aus der 60. Leipziger Dokwoche werden besonders aber drei subtile, feinfühlige Produktionen in Erinnerung bleiben, die am Beispiel schicksalhafter Biografien spannende Rückblicke in bedrückende Zeiten unternehmen, mit denen sich das Kino bislang noch weniger befasste.

Ausgehend von einem heruntergekommenen Holzhaus im russischen Niemandsland, das sie als ihr Erbe empfängt, unternimmt Aliona van der Horst in dem holländischen Beitrag Love is Potatoes eine sehr persönliche, bewegende Spurensuche nach der schmerzreichen familiären Vergangenheit. Sie führt ins stalinistische Russland. Drei Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs auf kargen Feldern hart arbeiteten, ihre Ernte ans Militär abtreten mussten, bitterlich hungerten und nicht mehr wussten, wie sie ihre Kinder ernähren sollten, rücken ins Zentrum. Jede floh auf andere Weise vor der Angst: van der Horsts Mutter heiratete einen Holländer und verließ Russland, ihre Schwester Lyuba überlebte, indem sie in der Ideologie des Kommunismus Trost suchte und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Religion, und Liza, die Älteste, verdrängt die Tragödien und bildet sich ein, sie habe ein ganz normales, unbeschwertes Familienleben genossen. Und dann ist da noch eine Tante, die sich einer Begegnung mit Aliona als einer Fremden verweigert, um die Sicht auf das eigene Leben zu schützen. Kunstvolle Zeichnungen des Italieners Simone Massi füllen die Leerstellen, die sich unweigerlich dadurch ergeben, dass sich niemand mehr an die Angst und den Hunger erinnern kann oder will. Nicht zuletzt mit schwermütigen Klängen, die atmosphärisch die bedrückenden Reminiszenzen unterstreichen, geht der großartige, leider nur mit dem Nebenpreis der Interreligiösen Jury prämierte Film sehr zu Herzen.

Nur das einfühlsame Porträt eines 92-jährigen Rumänen mit einer ebenfalls sehr schwierigen Existenz konnte ebenso stark berühren und wurde von der Jury entsprechend honoriert: Licu, a Romanian Story gewann den Hauptpreis, die „Goldene Taube“.

Es ist ein sehr intimer, sparsam inszenierter, minimalistischer Film an einem einzigen Schauplatz: Die Rumänin Ana Dumitrescu folgt ihrem Protagonisten in sein Haus, beobachtet ihn beim Reden, Rauchen oder dem Betrachten von Fotos und dokumentiert das Überleben im Auf und Ab der Zeiten. Licu blieb nichts erspart, er erlebte den Zweiten Weltkrieg, die grausame Ceausescu-Ära mit Enteignungen und Gulag, die Revolution von 1989, bei der er um ein Haar erschossen wurde, und den korrupten Post-Kommunismus.

Mit Schwarzweißbildern von schlichter Eleganz, dezenter, stimmiger Musik aus vergangenen Zeiten und Fotografien, die der Protagonist als Hobbyfotograf in eigenem Labor entwickelte, entfaltet das Werk auch visuell eine große Kraft.

Ein spannendes Stück Sozialgeschichte entdeckte schließlich auch die Französin Sophie Bredier in dem in der Normandie gelegenen Château Bénouville, das erst nach einer Rundumsanierung vor ein paar Jahren zu einer touristischen Sehenswürdigkeit avancierte: Von 1929 bis 1985 diente es als ein Heim für alleinstehende schwangere Frauen, die die Chance hatten, in diesem Secret Nest ihre Kinder anonym zu gebären.

Es sind ambivalente Erinnerungen, die in diesem alten Gebäude aufflammen: Die Zeitzeuginnen, die hier geboren und zur Adoption freigegeben wurden, verbinden mit ihm frühkindliche Traumen; den damals werdenden Müttern diente es zumindest auch als ein Schutzraum gegen die unbarmherzige Gesellschaft, die nur eheliche Kinder anerkannte.

Immerhin kehrten einige Frauen sogar ein zweites Mal an diesen Ort zurück, um ein weiteres uneheliches Kind dort auszutragen. Mit einigen solcher sehr komplexen, komplizierten Biografien, die stark verknappt für den Zuschauer etwas unverständlich bleiben, und einigen uneleganten Schnitten hat der Film auch Schwächen. Mit seinem interessanten Sujet und der verdienstvollen, aufwendigen Rechercheleistung bescherte er aber dem ansonsten eher mittelprächtigen Hauptwettbewerb einen kostbaren Beitrag gegen die wachsende Geschichtslosigkeit.


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