f detroit2Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 23. November 2017, Teil 7

N.N.

USA (Weltexpresso) - Schon mit ihrem mehrfach Oscar®-prämierten Drama TÖDLICHES KOMMANDO – THE HURT LOCKER („The Hurt Locker“, 2008) sowie dem ebenfalls Oscar®-nominierten Nachfolger ZERO DARK THIRTY („Zero Dark Thirty“, 2012) bewiesen Regisseurin Kathryn Bigelow und ihr Mitstreiter, der Drehbuchautor und Produzent Mark Boal, dass sie vor kontroversen Themen nicht zurückschrecken.

In ihrem neuen Film, dem dramatischen Thriller DETROIT, gelingt Bigelow nun ein meisterlicher Spagat zwischen ihrem erzählerisch beeindruckenden und versiert umgesetzten Cinéma Vérité-Ansatz und Boals spannungsgeladener, eindringlicher Geschichte, die den Zuschauer mitten ins Zentrum des Geschehens katapultiert. Unterstützt von einem erstklassigen Ensemble versetzt uns Bigelow in DETROIT zurück in den Sommer des Jahres 1967 und damit in den brodelnden Kessel der Bürgerunruhen, die damals die titelgebende Stadt vor eine Zerreißprobe stellten.

Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung und gebrochenen Versprechen brachen damals im überwiegend von Afroamerikanern bewohnten Stadtzentrum gewalttätige Aufstände aus. Das Einschalten der Nationalgarde, mit dem die Regierung auf die Unruhen reagierte, goss zusätzliches Öl ins Feuer des Konflikts. Die Kombination aus Chaos und Gewalt ließ die Grenzen zwischen Opfer und Täter zusehends verschwimmen. Jenseits der 43 Toten, die es nach den nicht einmal eine Woche andauernden Aufständen zu beklagen gab, war der größte Verlust, den diese Ereignisse nach sich zogen, allerdings der der Unschuld, wie DETROIT eindrücklich zeigt. Die ebenso wahren wie erschreckenden Vorfälle einer Nacht im Algiers Motel und ihr Nachspiel, beides war damals weithin bekannt, sind inzwischen längst zu einer Fußnote in den Geschichtsbüchern degradiert worden.

Bigelow lässt in ihrem neuen Film das Geschehen dieser schicksalhaften Nacht mitsamt ihren Folgen nun auf bemerkenswerte Weise wieder auferstehen. Sie zeigt sie dabei aus einer Nähe und mit einer Genauigkeit, die schon TÖDLICHES KOMMANDO – THE HURT LOCKER („The Hurt Locker“, 2008) und ZERO DARK THIRTY („Zero Dark Thirty“, 2012) auszeichneten. Das Medium Film, so sagt sie, „richtet sich an das Unterbewusstsein und fordert vom Zuschauer geradezu eine aktive Beteiligung ein.“

In TÖDLICHES KOMMANDO – THE HURT LOCKER versetzte Bigelow uns auf meisterliche Weise direkt in den Irakkrieg, in ZERO DARK THIRTY in das Anwesen von Osama Bin Laden. „Im Fall von DETROIT wollte ich dem Publikum das Gefühl vermitteln, sich unmittelbar im Algiers Motel zu befinden“, fährt sie fort. „So, als würde es die Ereignisse dort fast in Echtzeit miterleben.“

Durch das Ausgraben dieses größtenteils in Vergessenheit geratenen, aber entscheidenden Moments der jüngeren amerikanischen Geschichte wollten Bigelow und Boal den Todesopfern genauso wie den Überlebenden der Aufstände auf respektvolle Art eine Ehre erweisen. Boal, der sich über seine Firma Page 1 Productions mit dem Drehbuch an Bigelow und Annapurna Pictures wandte, stellte umfangreiche und gewissenhafte Recherchen zu den Unruhen an. Er sprach mit jedem, den er ausfindig machen konnte, der noch lebte und damals auf den Straßen Detroits dabei war.

Aufgrund des dokumentarisch anmutenden Cinéma Vérité-Ansatzes, für den sich Bigelow und ihr Kameramann Barry Ackroyd entschieden, fassten sie und der für den Schnitt verantwortliche Billy Goldenberg den Entschluss, auch Archivaufnahmen in den Film zu integrieren, wodurch der Zuschauer noch mehr in die Handlung hineingezogen wird. „Während der Recherche stieß ich auf echte Aufnahmen aus den Tagen der Aufstände, die sich perfekt mit Barrys Bildern kombinieren ließen. Dadurch konnten wir eine Authentizität erzeugen, die man beinahe körperlich spüren kann.“

„Im Film kann Geschichte manchmal ein wenig antiseptisch wirken, vor allem wenn das Gezeigte 50 Jahre zurückliegt“, meint Boal. „Nur wenn man die involvierten Personen wirklich kennen lernt, beginnt man zu begreifen, dass Geschichte nichts Anonymes, sondern das Leben von Individuen ist. Darauf habe ich mich mit meinem Drehbuch konzentriert.“

Ab 2014 interviewten Boal und sein Recherche-Team Dutzende Beteiligte, die damals in Detroit vor Ort waren, von schwarzen Anwohnern bis hin zu Polizisten und Armeeangehörigen. Sein sechsköpfiges Team, das vom mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten und aus Detroit stammenden Reporter David Zeman geführt wurde, stieß außerdem auf unzählige Aufzeichnungen aus jener Zeit, darunter Zeitungsberichte, Fernseh- und Radioreportagen, Gerichtsprotokolle, Ermittlungsberichte des FBI und des Justizministeriums sowie soziologische Studien. Etliche dieser Dokumente, etwa vom Detroit Police Department oder der University of Michigan, waren nie zuvor veröffentlicht worden.

Aus den vielen persönlichen Geschichten, die seinen Weg kreuzten, stach für Boal eine ganz besonders heraus: die von Larry Reed (der im Film von Algee Smith gespielt wird), dem Sänger der damals aufstrebenden R&B-Gruppe The Dramatics. Reed hatte in jenem Juli 1967 spontan für sich und seinen besten Freund Fred Temple (Jacob Latimore) ein Zimmer im Algiers Motel gemietet, um während der verhängten Ausgangssperre nicht auf der Straße sein zu müssen. „Ohne eigenes Zutun wurde Larry in diese unfassbare Kriminalgeschichte verwickelt“, sagt Boal. „Diese Nacht veränderte den Verlauf seines restlichen Lebens – und genau das sollte das Rückgrat unseres Films darstellen.“

Boal machte Reed, der sich viele Jahrzehnte nicht öffentlich zu den Vorfällen geäußert hatte, ausfindig. Obwohl er zunächst zögerte, teilte er schließlich seine schmerzlichen Erinnerungen an jene Nacht im Algiers Motel mit Boal, der davon so bewegt war, dass er auf diesen zu Unrecht von der Geschichtsschreibung vernachlässigten Moment den Scheinwerfer richten wollte. Zusätzlich zu Reeds Aussage und zahlreichen archivarischen Aufzeichnungen über die Ereignisse im Algiers, trieb der Drehbuchautor auch noch etliche andere Motelgäste auf, die angesichts des Horrors jener Nacht buchstäblich verstummt schienen.

Mit dem Erzählen dieser Geschichte ging die Verantwortung einher, sie so fair und unvoreingenommen wie möglich zu erzählen, meint Bigelow, die ihrerseits mit zahlreichen Überlebenden der Aufstände sprach. „Wenn man einen Film über ein reales Ereignis dreht und die Zeugen dieses Ereignisses kennenlernt, dann will man sicherstellen, dass deren Erfahrungen nicht umsonst gemacht wurden. Man muss den Nachklang ihrer Geschichte einfangen und dem Publikum vermitteln.“

Boal ergänzt: „Das Erzählen wahrer Vorfälle wie dieser geht mit einem Gefühl von persönlicher Verantwortung einher. Nicht nur gegenüber der Geschichte, sondern vor allem gegenüber den Beteiligten, sowohl denen, die ihr Leben verloren haben, als auch denen, die überlebten. Natürlich haben wir einen Spielfilm und damit Unterhaltung gedreht, keine Dokumentation. Doch das nimmt uns nicht aus der Pflicht, der Vergangenheit auf respektvolle und rücksichtsvolle Weise Tribut zu zollen.“

DER PROLOG ALS KONTEXT

Bevor der Film in die Detroiter Aufstände und die eigentliche Handlung eintaucht, war es für Bigelow wichtig, den Zuschauern den sozialgeschichtlichen Hintergrund der Ereignisse zu erklären. Sie wollte nicht nur den Kontext zum Konflikt mitliefern und erläutern, warum er einen solchen (nicht nur sprichwörtlichen) Flächenbrand nach sich zog, sondern auch Einblick gewähren in die kulturelle Landschaft der Stadt im Jahr 1967. „Als langjähriger Bewunderer der Arbeit des großen afroamerikanischen Künstlers Jacob Lawrence erschien mir seine Gemäldereihe ‚The Migration Series’ als geeignetes Vehikel, um dem Publikum die Jahrzehnte vor den Bürgerunruhen der 1960er Jahre zu erklären. Jeder sollte die Wut und die Ungerechtigkeit nachvollziehen können, die sich über lange Jahre angestaut hatten und unser Land letztlich auf Konfrontationskurs brachten. Wir wandten uns an Lawrences Nachlassverwalter und fragten, ob wir seine einzelnen Paneele abfilmen und ineinander überblenden dürften“, berichtet die Regisseurin. „Auch was den begleitenden Text anging, waren wir uns des Ausmaßes und der Komplexität der damaligen Ereignisse mehr als bewusst. Deswegen engagierten wir dafür Henry Louis Gates Jr., den Leiter des Hutchins Center for African American Research der Harvard-Universität.“

Foto: © Verleih
Info: Abdruck aus dem Presseheft von DETROIT 

Regie:
Kathryn Bigelow
Drehbuch:
Mark Boal

Besetzung

Dismukes        John Boyega
Krauss             Will Poulter
Larry                Algee Smith
Fred                Jacob Latimore
Carl                 Jason Mitchell
Julie                 Hannah Murray
Demens           Jack Reynor
Karen               Kaitlyn Dever
Flynn               Ben O’Toole
Auerbach        John Krasinski
Greene            Anthony Mackie
Vanessa          Samira Wiley