Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 14. Dezember 2017, Teil 6
Claire Denis
Paris (Weltexpresso) - Ich war in einer jener Ruhephasen zwischen zwei Projekten: zwischen meinem fertigen Film, der besonders anstrengend war, und dem nächsten, einer internationalen Koproduktion, die natürlich noch schwieriger zu bewältigen ist. Ich war also in einem vorübergehenden Zustand der Erwartung. Dann, genau im richtigen Moment, präsentierte Olivier Delbosc mir einen Vorschlag: Er arbeitete an einem Filmprojekt, und er wollte, dass ich dabei bin. Er nannte diesen Film „einen Sammelband“. Er hatte die Idee einer Adaption von Roland Barthes Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe”, die durch verschiedene Regisseure umgesetzt werden sollte.
Im Sommer zuvor hatte ich in Avignon eine Lesung von Christine Angots Texten der beiden Schauspieler Norah Krief und Alex Descas besucht. Danach sagte ich zu Christine: „Ich habe das seltsame Gefühl, ich könnte diesen Dialog filmen. Genauso, wie er gesprochen wurde; ohne Vorbereitung und Requisite, nur mit einer Kamera und einem Tonmann. Ich habe ihn ganz klar in meinem Kopf.” Und sie hat darauf gesagt: „Aber das wird nicht funktionieren!“ Ich habe ihr geantwortet: „Wird es doch. Du wirst schon sehen.”
Ich beschloss, einen Workshop im nationalen Studio für zeitgenössische Kunst, Le Fresnoy, zu organisieren. Das Projekt war schnell zusammengestellt. Ich arbeitete mit den beiden Schauspielern von Avignon; Agnès Godard war die Kamerafrau und alle anderen Teilnehmer des Workshops haben geholfen. In drei Drehtagen und einer Woche Schnitt – und nur mit dem, was wir am Le Fresnoy zur Verfügung hatten – entstand ein 45-minütiger Film mit dem Titel Here Is the Concatenation, the story of a couple’s break-up. Dieses Erlebnis war für mich sehr befreiend. Fast so wie das Sprengen von Ketten, wenn man sonst für das Kino arbeitet. All die Schwierigkeiten, einen Film zu komponieren, lösten sich einfach in Luft auf.
Christine hat diese Wirkung auf mich: Sie gibt mir meinen Glauben zurück, dass die Arbeit die Zeit wert ist. Ich glaube natürlich an die Arbeit, aber manchmal ist es schwierig, die eigenen Projekte wie echte Arbeit zu betrachten - vor allem beim Film, wo es eine solche Abhängigkeit von anderen gibt, die in den frühen Morgenstunden alleine in deiner Küche sitzen und herauszufinden versuchen, wie deine Arbeit anzupacken ist. Das ist über lange Zeit schwer zu ertragen. Aus diesem Grund glaube ich, dass Schriftsteller effizienter sind als Filmemacher. Die FresnoyErfahrung hat mir unglaublich gut getan, weil sie meinen Wunsch nach Arbeit neu entfacht hat. Kurz gesagt, Christine und dieser kleine Film des Fresnoy-Workshops haben mich wieder auf den Weg gebracht und meine Beziehung zur Arbeit neu definiert.
Christine und ich wollten dieses Abenteuer verlängern. Und so erzählte ich Olivier Delbosc von Christine, und ich sprach mit Christine über Oliviers Projekt. Aber wir wollten keine Adaption von Barthes Buch, wir wollten unser eigenes Drehbuch schreiben: Unsere Liebes-Fragmente. Am Ende konnten wir uns das Thema komplett zu eigen machen. Wir haben Barthes Idee beiseite gelegt und uns von der Idee einer Adaptierung verabschiedet. Es gibt kein einziges Fragment von Barthes Texten in unseren Dialogen. Jedoch, es gab dieses eine Wort, das fest in unseren Köpfen saß: Agonie. Wir nutzten es, um Licht auf unser eigenes Leben zu werfen.
Wir haben uns einfach an eine freie Struktur gehalten, die zu einem Film aus Fragmenten geführt hat. Außerdem arbeiteten Christine und ich in Fragmenten oder „Momenten“, und das war für uns ideal. Wir haben Agonie zu unserem Schlüsselwort und Ausgangspunkt unserer Arbeit gemacht. Nach meiner Vorstellung ist die Agonie eine sehr schicke und leicht selbstsüchtige Art zu sagen, dass man vom romantischen Leiden überwältigt ist: die unstillbare Erwartung, das vereitelte Ideal. Man kann dieses Wort „besitzen“, sobald man seinen Liebesbeziehungen pragmatisch gegenübersteht und sich erlaubt, die eigene Vergangenheit selbstironisch zu betrachten. Das Wort Agonie hatte für Christine und mich sofort einen Zauber und versetzte uns in eine Art imaginäre Welt. In gewisser Weise haben unsere eigenen „Liebeskämpfe“ den Schreibprozess gefüttert.
Wir nährten uns aus unseren eigenen Erfahrungen. Zunächst war die Frau, die im Drehbuch erscheint, eine Version von uns, von Christine Angot und mir: Sie zeigte Elemente unseres Lebens, Stücke unserer Geschichten. Dann wurde uns klar, es muss Juliette sein. Juliette Binoche ist für uns das Ideal, um die Rolle der Isabelle zu verkörpern. Das Drehbuch erforderte einen zarten, wollüstigen und begehrenswerten femininen Körper: Eine Frau, deren Gesicht und Körper schön sind und deren Haltung in keiner Weise eine Niederlage vermittelt. Jemand, für den im Kampf um die Liebe der Sieg immer noch möglich ist – aber ohne jemals davon auszugehen, dass das Ergebnis sicher ist.
Christine und ich haben uns nicht gut gekannt. Wir kamen uns näher und klammerten uns an das Leben des anderen. Wir trafen uns in der Mitte unserer Lebensreise und hielten uns im Laufe der Geschichte aneinander fest. Wir versuchten gemeinsam und mit Aufrichtigkeit, unsere Misserfolge in der Liebe, unsere dunkelsten Wolken zu betrachten – und wir lachten über sie. Und da sie uns zum Lachen brachten, könnten sie auch andere zum Lachen bringen. Wenn du im Duo mit jemandem schreibst, gibt es eine natürliche und gesunde Distanz, die dazu beiträgt, Ironie und Leichtigkeit hinzuzufügen.
Diese Bindung, die uns wie zwei Komplizen zusammengeschweißt hat, kann man in der Szene beim Fischhändler sehen, wo wir Philippe Katherine (Mathieu) das dumme französische Wort „poiscaille“ (fischig) sagen lassen. Christine und ich waren uns vollkommen einig: Ein erwachsener Mann, der diesen Begriff benutzt, ist einfach ungenießbar! Christine ist die Art von Schriftstellerin, die sofort begreift, dass aus dem Wort „fischig“ eine großartige Szene werden kann. Es ist diese Art von verspieltem Denken, die uns während des Arbeitsprozesses zusammengebracht hat. Dieses spielerische Zusammentreffen von Gedanken führte zu diesem zufälligen Film, der für mich zu einem unerwarteten Erlebnis wurde – in jeder erdenklichen Weise, einschließlich der schieren Freude, die ich während der ganzen Zeit empfand.
Ich hatte ein sehr genaues Bild von Isabelles Charakter. Ich stellte mir eine sehr feminine, braunhaarige Frau vor, mit Overknee-Stiefeln, weil die ein Ausdruck ihres Verlangens sind. Wir sehen ihre Oberschenkel zwischen ihrem Minirock und der Oberseite ihrer Stiefel. Für ihre Haare wollte ich einen Bob, so wie bei den kämpferisch aussehenden Frauen von Mystic oder den monochromen Zeichnungen, die man in den 80er Jahren auf den Straßen sah. Ich hatte dabei auch die Figuren von Guido Crepax im Sinn: dunkelhaarige Frauen mit kurzen Haaren und einer starken sexuellen Aura. Eine Frau ohne Tabus, aber weder Nymphomanin noch Prostituierte.
Isabelle ist sich bewusst, dass sie, wenn sie wahre Liebe finden will, von Zeit zu Zeit in Tränen ausbrechen wird. Ich habe diese Filmfiguren satt, die immer so heroisch sind; man kann nicht immer so sein und Isabelle bemüht sich, nicht mehr so zu sein. Isabelle ist eine Frau, die die zunehmende Diskrepanz zwischen dem sieht, was sie bei Männern sucht und dem, was sie dort findet. Und diese Diskrepanz wächst im Laufe ihrer verschiedenen Begegnungen, ihrer „Fragmente“. Aber sie ist keine weibliche Version von Don Juan: keine depressive Verführerin, Opfer einer Sucht, die sie langsam umbringt. Sie ist eher ein weiblicher Casanova und eine Hedonistin. Aber weil sie eine Frau ist, sollte dieser Aspekt besser verborgen bleiben.
Die Auswahl der Männer, mit denen Isabelle sich beschäftigt und die sie trifft, war entscheidend. Vor allem wollte ich nicht, dass sich Juliette mit einer Reihe von Schauspielern beschäftigen muss, die sie einen nach dem anderen erfolgreich aufspießt. Also habe ich ihr Filmemacher wie Xavier Beauvois (Vincent), Bruno Podalydès (Fabrice) und Leute gegenübergestellt, mit denen mich eine gemeinsame Geschichte verbindet, wie zum Beispiel mit Alex Descas (Marc) und Laurent Grévill (François). Das hat Elemente meiner eigenen Geschichte und eine gewisse Art, Männer zu betrachten, integriert. Seit meiner Jugend sind die stärksten männlichen Vorbilder oft Filmemacher.
Gérard Depardieu taucht am Ende des Films auf, wie das große Finale einer Reise zur Liebe. Wir haben die Tête-à-Tête-Szene mit Juliette an einem Tag gefilmt. Das waren die intensivsten Dreharbeiten, die ich je erlebt habe: 16 Minuten Film an einem Tag. Das ist mir noch nie passiert. Wir hatten zwei Szenen mit Juliette und drei mit Gérard. Das war alles. Zunächst erkannte ich nicht die Leistung, die sie damals vollbracht hatten, aber Gérard zeigte es mir nachher.
Diese Szene wurde zu einem einzigen Block, der absolut nicht geschnitten werden konnte. Obwohl ich niemals eine solche Herausforderung annehmen wollte, war das die richtige Entscheidung. Ich bin überzeugt, hätten wir acht Tage am Set verbracht, hätten wir etwas verloren. Wir hätten sogar viel verloren: Gérards Pracht wäre in sinnlose Bruchstücke zerrissen worden. Man kann die Wirkung, die Gérard am Set ausübt, fast nicht beschreiben. Und ich denke, das hatte er schon immer. In der Rolle des Hellsehers finde ich ihn faszinierend. Wenn ein Mensch diese Art von Schönheit besitzt, diese körperliche und sexuelle Kraft, dann muss er mit dieser Energie geboren worden sein. Wenn er im Raum ist, ist etwas in der Luft, das deren Partikel zweifellos verändert. Sein Tonfall, sein Spiel schaffen eine Form der Musik. Es spielt keine Rolle, ob er am Filmset ist, in einem Raum, im Auto oder auf der Bühne: Ich besuchte einen Auftritt, um zu hören, wie er „Barbara” singt und es war fantastisch. Es ist schön, wenn er singt. Ja sehr, sehr schön, aber es ist nicht nur das: Mehr als alles andere, es ist Magie.
In gewisser Weise könnte man sagen, der Film verdankt Depardieu seinen französischen Titel Un beau soleil intérieur (Eine schöne innere Sonne). Für eine lange Zeit hatten Christine Angot und ich keinen Titel für den Film. Nur zwischen uns gab es einen Arbeitstitel: Dark Glasses. Ich mochte ihn, fühlte aber auch, dass er für den Film nicht ideal war. Erst als wir die erwähnte Szene mit Depardieu drehten, wurde uns der Titel klar. Wenn er seine sanften, glänzenden Augen auf Juliette richtet und sagt: „Offen... bleib offen für Dinge ... finde deinen eigenen, einzigartigen Lebensweg – dann wirst Du eine schöne, innere Sonne finden...“
Er sagt diese Zeilen fast übernatürlich. Er ist der einzige Schauspieler, der damit durchkommt, so großartige Sätze auf diese Weise zu sagen. Und es brauchte einen Gérard Depardieu, der diese Zeile so sagte, dass ich den Titel „hören“ konnte. Wir ließen die „Dunklen Gläser“ und ihren Schutzschatten fallen, um Platz für das schöne innere Licht zu machen, die leuchtende Flamme der Seele.
Über die Regisseurin:
Claire Denis wurde 1948 in Paris geboren und verbrachte einen Großteil ihrer Kindheit in Französisch-Westafrika. Sie war Trainee in einer Firma, die Lehrfilme produzierte und schloss 1971 ihr Filmstudium am Institut des hautes études cinématographiques in Paris ab. Sie assistierte Regisseuren wie Costa-Gavras, Wim Wenders und Jacques Rivette, bevor sie 1988 ihr Langfilmdebüt Chocolat – Verbotene Sehnsucht inszenierte. In ihren Filmen beschäftigt sich Claire Denis häufig mit Menschen am Rande der Gesellschaft und mit dem Erbe des Kolonialismus wie in Der Fremdenlegionär (1999), Trouble Every Day (2001) oder Land in Aufruhr (2009).
Foto: © pandorafilm
Info:
Isabelle – Juliette Binoche
Vincent (Bankier) – Xavier Beauvois
Mathieu – Philippe Katerine
Maxime – Josiane Balasko
Schauspieler – Nicolas Duvauchelle
Marc (Galerist) – Alex Descas
Wahrsager – Gérard Depardieu
François – Laurent Grévill
Fabrice – Bruno Podalydès
Sylvain – Paul Blain
Freundin – Sandrine Dumas
Die Frau im Auto – Valeria Bruni-Tedeschi