Vor der Berlinale (3)
Hanswerner Kruse und Hannah Wölfel
Berlin (Weltexpresso) - Auf dem Weg zur Bahn drückt uns morgens eine freundliche ältere Frau die Broschüre „Wo findet man die Antwort?“ in die Hand. Achtlos stopfen wir die Druckschrift der Zeugen Jehovas in einen Rucksack. Heute werden wir restaurierte japanische Pinku-Eiga-Streifen im FORUM ansehen, obwohl wir bis gestern Abend auch noch nicht wussten, was Pinku Eiga bedeutet.
Wir sind begeistert und verstört von diesen schwarz-weiß flimmernden Lichtbildern aus den Jahren 1967 und 1971: Im ersten Film ("Inflatable Sex Doll...") jagt ein cooler Auftragskiller, gerne zwischen Schaufensterpuppen, die Mörder einer schaufensterpuppenartigen Frau, die vielleicht auch seine schaufensterpuppenartige Geliebte gewesen sein könnte. Als er zum Schluss mit ihr im Bett liegt, bekommt sie Risse und zerbröselt unter seinen Händen. Mit verwirrenden surrealen Rückblenden, bizarren Zeitverschiebungen und Softporno-Schnipseln werden diverse Varianten der Geschichte durchgespielt.
Im zweiten Film ("Gushing Prayer") versuchen junge japanische Intellektuelle, desillusioniert von der gescheiterten Revolte, mit ihren Körpern „das Sexuelle“ zu spüren. Sie wollen sich im Gruppensex von der korrupten Welt der Erwachsenen abgrenzen. Jedoch das - vielleicht - schwangere Mädchen Yasuko will das nicht oder schafft es nicht, ihren Körper zu spüren. Während die Jungs die ganze Zeit wie närrisch herumbrüllen, prostituiert sie sich bei anderen Jungs oder mit einem Lehrer, um über Grenzen zu gehen. Auch in diesem Streifen gibt es keine durchgehende Handlung, sondern nur assoziative Bilder, Rückblenden, viele Fragen - und zum Schluss eine endlose Panzerkolonne, die durch die Stadt fährt.
Völlig benommen kramen wir die Broschüre der freundlichen Frau vom Vormittag heraus. Aber die Bibel, die als Lösung für die Frage - „Wo findet man die Antwort?“ - vorgeschlagen wird, hilft auch nicht weiter: Pinku-Eiga-Filme zeigen eine düstere Welt ohne Gott, die Menschen sind auf sich geworfen. Niemand hilft ihnen und nicht einmal das böse Gute, geschweige denn das wirklich Gute, kann gewinnen.
Die beiden Filme erinnern ästhetisch an das französische schwarze Kino, den film noir, der 1960er Jahre, jedoch sind sie wesentlich radikaler und nihilistischer. Durch ihre Verrätselung, die kunstvolle Nutzung aller damaligen cineastischen Mittel und vor allem die intensive, sehr weitgehende Erotik wurde Pinku Eiga ein ganz eigenständiges Genre in Japan mit über 5.000 Filmen.
Der bei uns sicher bekannteste erotischste Film Japans, „Im Reich der Sinne“ von Nagisa Ōshima, bewegt sich unserer Meinung nach deutlich in der Tradition dieser Pinku-Filme. Er wurde seinerzeit übrigens auf der Berlinale 1976 bei seiner Uraufführung von der Staatsanwaltschaft als „Pornografie“ beschlagnahmt. Genau ein Jahr später gab das Berliner Oberlandesgericht ihn zur Aufführung frei, weil der Streifen keine Pornografie sondern Kunst sei.
Aki Sasaki als jugendliche Prostituierte Yasuko © 2018 Kokuei / Rapid Eye Movies