N.N.
Florida (Weltexpresso) – TANGERINE haben Sie komplett auf einem iPhone gedreht. War es eine große Umstellung, wieder ganz klassisch zu filmen?
Es ist eine völlig andere Sache. Wir haben im Fall von THE FLORIDA PROJECT auf 35mm gedreht. Dadurch konnten wir nicht so schnell arbeiten und nicht ganz so spontan sein. Aber ich finde, bei einem Film wie diesem ist eine gewisse Fokussierung hilfreich und nötig. Mir war als Gegenpol zu meinen früheren Filmen ein klassischer Look bei THE FLORIDA PROJECT sehr wichtig. Es ist ein Film über die Kindheit, daher wollte ich eine nostalgische Atmosphäre herstellen. Selbst bei Szenen, in denen wir digitale Aufnahmen drehen mussten, weil die 35mm-Variante nicht klappte, sind wir so weit gegangen, die Aufnahmen später auf Film zu überspielen. Alles, was Sie sehen, ist 35mm - auch die iPhone-Aufnahmen ganz am Schluss.
Was bedeutet das für Ihre Art und Weise, zu arbeiten? Man kann es sich schließlich nicht erlauben, endlos viel Material zu verfilmen.
Das stimmt. Ich bin eigentlich ein großer Fan von Improvisation und hatte meine Bedenken, ob ich THE FLORIDA PROJECT wirklich so würde drehen können, wie ich es gewohnt bin. Aber wir hatten ein Drehbuch, auf das wir jederzeit zurückgreifen konnten. Bei meinen vorherigen Filmprojekten habe ich mit „Scriptments“ - halb Drehbuch, halb Treatment - gearbeitet. Aber weil diesmal so viele Kinder und Laien involviert waren, musste alles genau vorher festgeschrieben sein.
Warum wollten Sie unbedingt mit Kameramann Alexis Zabé für THE FLORIDA PROJECT zusammenarbeiten?
Seine Kameraarbeit zu SILENT LIGHT hinterließ einen bleibenden Eindruck bei mir. Seine Bildkompositionen sind einmalig. Noch mehr beeindruckte mich aber seine Arbeit an Musikvideos wie „Happy“ von Pharrell Williams. Die ist ganz anders - unheimlich knallig und direkt, die Farben springen einem förmlich ins Gesicht. Für FLORIDA PROJECT stellte ich mir einen klassischen Look mit Elementen einer „Pop sthetischen Wahrheitsvermittlung“, wie ich es formulieren möchte, vor.
Gab es filmische Vorbilder für THE FLORIDA PROJECT?
Die LITTLE RASCALS hatten großen Einfluss auf unsere Arbeit. THE FLORIDA PROJECT steckt voller Verweise und Zitate, mit denen wir uns vor unserem Vorbild verbeugen. Aber auch viele andere klassische Filme ber Kinder sind mir wichtig. Wir haben uns KES („Kes“, 1969) von Ken Loach angesehen, PONETTE („Ponette“, 1996) von Jacques Doillon, die Serie „P’tit Quinquin“ („Kindkind“) von Bruno Dumont – eine ganz wichtige Inspiration. Amerikanische Filme über Kinder kommen mir meist so künstlich vor – ich kann den Figuren oft überhaupt nicht glauben. Ich wollte die Kinder in meinem Film so agieren lassen, wie sie eben sind. Ihnen in langen Einstellungen zusehen und sie einfach Kinder sein lassen.
Darüber hinaus gibt einige Filmemacher wie Eric Rohmer, John Cassavetes, Hal Ashby oder Regisseure der Dogma 95-Bewebung wie Lars von Trier, die mich sehr in meiner eigenen Arbeit beeinflusst haben.
Wie sind Sie auf die Welt der Billigmotels aufmerksam geworden?
Mein Mitautor Chris Bergoch ist ein riesiger Disney-Fan und weiß alles darüber. Irgendwann ist er über einige Zeitungsartikel gestolpert, in denen über die Situation in Kissimmee, das wenige Kilometer von Disneyworld entfernt liegt, berichtet wurde. Chris hat sich vor Ort einen Eindruck über die Verhältnisse gemacht und war so beeindruckt, dass er davon in einem Film erzählen wollte. Das war noch vor TANGERINE („Tangerine L.A.“) - aber weil wir wussten, dass es ein größeres Projekt würde, konnten wir die Finanzierung damals nicht auf die Beine stellen.
So haben wir zunächst TANGERINE gedreht und dadurch konnten wir letztendlich einige Jahre später THE FLORIDA PROJECT finanzieren. Insgesamt haben wir sieben Jahre an dem Projekt gearbeitet.
Die Situation hat sich in der Zeit nicht geändert?
Überhaupt nicht. Sie ist, wenn überhaupt, noch schlimmer geworden. Die Auswirkungen der Finanzkrise und der geplatzten Immobilienblase von 2008 sind so nachhaltig, dass Menschen und Familien, die damals in den Abgrund gerissen wurden, seither nicht mehr auf die Beine gekommen sind. Es gibt Kinder, die ein Leben abseits der prekären Umstände, in denen sie groß werden, gar nicht kennen. Obdachlose in Billigmotels findet man nicht nur in Florida: Es ist der letzte Zwischenstopp für viele Menschen vor dem Leben auf der Straße. Das Bizarre an der Situation ist, dass die Motelzimmer fast so teuer sind wie die Miete für ein Haus – mit dem Unterschied, dass man in den Motels eben täglich bezahlen muss. Meine Wohnung in West-Hollywood kostet 1200 Dollar – das müssen diese Familien auch zahlen, wenn sie 35 bis 40 Dollar pro Nacht ausgeben.
Was war die wichtigste Begegnung, die Sie bei der Arbeit an THE FLORIDA PROJECT hatten?
Kurz vor Drehstart sah ich eine Mutter mit ihrer Tochter, die genauso aussahen und sich benahmen, wie sich Chris und ich Halley und Moonee vorgestellt hatten. Die beiden Rollen sind eigentlich die Summe vieler verschiedener Menschen, die wir kennengelernt hatten. Aber dann war ich in diesem Supermarkt und habe dieser Mutter und ihrer Tochter eine Weile zugesehen, wie sie dort mit dem Einkaufswagen herumgefahren sind – ähnlich wie Halley und Moonee nachher im Film. Ich sprach die beiden an und alles, was sie mir über ihr Leben erzählten, entsprach hundertprozentig dem, was Chris und ich uns für den Film ausgedacht hatten. Das war schockierend.
Auch Teile Ihrer Besetzung wohnen in Billigmotels?
Wir haben im ganzen Bezirk nach geeigneten Darstellern gesucht. Es war mir egal, ob sie schauspielerische Erfahrung mitbrachten oder nicht. Ich wollte einfach nur die richtigen Kinder besetzen. Das erste Mal, als wir Brooklynn Kimberly Prince sahen, die bereits Kameraerfahrung hatte, stellte sich auch Christopher Rivera vor. Beide fanden wir toll. Da haben wir erst erfahren, dass Christopher in einem der Billigmotels wohnt – mittlerweile glücklicherweise nicht mehr. Er sagte oft während des Drehs zu mir: „Verr ckt, das erinnert mich total an mein Motel.“
Ich wollte, dass der Zuschauer ein Teil des Kosmos wird, innerhalb dessen wir uns in THE FLORIDA PROEJCT bewegen. Und dass diese ganze besondere Sommerferien- Atmosphäre, die die Kinder im Film erleben, sich auch auf das Publikum überträgt.
Fiel es Ihnen leicht, mit den Kindern umzugehen?
Mir fällt es generell leicht, mit Menschen zu kommunizieren. Für die Kinder war der Dreh einfach nur ein Abenteuer – so als würden sie ein Ferienlager besuchen. Oft haben wir sie einfach beim Spielen gefilmt.
Gleichzeitig haben Sie sich mit Willem Dafoe einen echten Vollprofi vor die Kamera geholt. Was gab Ihnen die Zuversicht, dass dieses Zusammenspiel funktionieren würde?
Ich hatte keine Ahnung, ob es klappen würde. Aber wir hatten ein höheres Budget, und da können Finanziers und Produzenten schon mal besser schlafen, wenn man wenigstens ein wiedererkennbares Gesicht im Cast hat. Die Art von Filmen, die ich mache, brauchen aber eigentlich keine bekannten Namen. Vor allem geht es darum, die Welt, die wir zeigen, glaubwürdig darzustellen. Als wir uns über potenzielle Schauspieler für THE FLORIDA PROJECT unterhielten, fiel auch Willems Name und ich konnte ihn mir sehr gut in meinem Cast vorstellen. Er war Feuer und Flamme, sich Kissimmee anzusehen und Leute dort zu treffen, vor allem einen ehemaligen Motelmanager, auf dem Willems Rolle basiert. Willem verschmilzt förmlich mit den Figuren, die er spielt. Ich kann ihn nicht genug für seine unfassbare Geduld loben. Er musste mit Sechsjährigen arbeiten, mitten im Sommer in Florida. Es war so irrsinnig heiß, die Luftfeuchtigkeit war hoch, wir drehten auf 35mm – viele Dinge, die einen ungeduldig werden lassen könnten.
Der Film macht eine richtig große Welle. Selbst Nominierungen bei den Oscars scheinen nicht ausgeschlossen. Wie gehen Sie damit um?
Ich genieße es. Und freue mich, dass ein Film mit einem so wichtigen Thema all diese Aufmerksamkeit bekommt. Ich habe viele Jahre Filme völlig unter dem Radar gemacht. Aber mittlerweile schicken mir alte Schulkameraden, von denen ich seit Jahren nicht mehr gehört habe, Textnachrichten, sie hätten viele gute Dinge über meinen Film gehört und könnten es gar nicht mehr erwarten, ihn zu sehen.
Warum fühlen Sie sich dem unabhängigen Kino so sehr verbunden?
Es ist zwar ein ewiger Kampf, Filme unabhängig zu drehen. Aber ich denke mir, dass ich mir das leisten kann: Ich habe keine Familie, die ich ernähren muss – nur zwei Chihuahuas. Auf diese Weise habe ich die Garantie, dass ich meine Filme hundertprozentig so umsetzen kann, wie ich mir das vorstelle. Aber sicher, Hollywood klopft an und die Versuchung ist groß, mehr im Mainstream zu arbeiten. Man wäre auf jeden Fall abgesicherter. Aber dann beobachte ich Filmemacher, die ich verehre und die mich inspirieren, wie Ken Loach oder Paul Thomas Anderson: Sie haben bei jedem ihrer Filme eine Mission, Leidenschaft und eine Vision. Nur dadurch können sie ihre Geschichten so erzählen, wie sie sie erzählen. Das sagt mir zu. Mainstream sollen andere machen.
Foto:
© Verleih
Info:
DARSTELLER
Brooklynn Kimberly Prince
Christopher Rivera
Valeria Cotto
Bria Vinaite
Willem Dafoe
Mela Murder
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